Ein Benedikt-Bild in der Abtei En-Calcat
Die Quelle
In der Kirche der Abtei En-Calcat in Frankreich gibt es an einem Seitenaltar einen modernen Retabelaufbau, der als Zentralfigur den heiligen Benedikt zeigt. Er ist umgeben von anderen Heiligen und von szenischen Darstellungen aus der Vita des Heiligen. Die Figuren und Szenendarstellungen sind von den Schwestern der nur wenige Fußminuten entfernten Frauenabtei Dourgne gearbeitet.
Der heilige Benedikt dieses Altares hält in der rechten Hand einen Abtsstab und in seiner linken die aufgeschlagene Bibel mit dem Petruswort „Wohin sollen wir gehen, Herr? Du hast Worte des ewigen Lebens.“ Jesus hatte gerade die schwierige Rede beendet, in der er Brot mit seinem Leib in miteinander identifizierende Verbindung gebracht hatte. „Wer mein Fleisch isst, …“ Viele verließen darauf Jesus und der fragte auch seine nächsten Freunde: „Wollt nicht auch ihr gehen?“ Petrus hat voller Ratlosigkeit geantwortet, was der Benedikt unseres Altares mit der geöffneten Bibel dem Betrachter entgegenhält. „Wohin sollen wir gehen?“
Will dieser Benedikt vielleicht sagen: „Auch wir Mönche haben keine ‚Antworten’ auf die vielen Fragen. Aber wir wagen eine Antwort: den Glauben und die Nachfolge Jesu. Sein Wort löst auch uns nicht die Rätselfragen der Vernunft, aber in ihnen schimmert der Tiefenglanz anderen, ewigen Lebens auf.“
Um die Hand, die die offene Bibel trägt, hat Benedikt eine Kordel mit einem Beutel daran geschlungen. Der Inhalt des Beutels ist durch die Aufschrift als die Regel identifiziert, die der Heilige geschrieben hat. Ich bin sensibel geworden für derartige Buchbeutel - oder sagen wir besser mit dem Fachausdruck: Beutelbücher -, nachdem ich mir vor Jahren meine kleine Handbibel als ein solches Beutelbuch neu binden ließ.
Bibel und Regel in der Hand Benedikts sind eine mir bisher noch nicht begegnete Kombination. Die Künstlerin aus Dourgne und die Mönche von En-Calcat wollen bestimmt etwas damit zum Ausdruck bringen. In der Darstellung hängt die Regel von der Bibel herab, - sie hängt an der Bibel, - sie hängt von der Bibel ab, … buchstäblich und im übertragenen Wortgebrauch. Die Heilige Schrift ist die Quelle der Regel. Sie will nichts anderes sein als die Übersetzung der Bibel in das Lebensfeld des Klosters des heiligen Benedikt. Wenn man es denn modern sagen will: die Regel enthält die „Ausführungsbestimmungen“ der Schrift für den Klosteralltag.
Und dann noch diese Beobachtung: Aufgeschlagen ist die Bibel, - das Quellwort für die Regel! Die Regel selbst ist in ihrem Beutel wohl geschlossen. Wer aus der Quelle trinkt, hat immer auch den Fluss, aber der Fluss ist nicht quellfrische Quelle. Wer aus der Quelle getrunken hat, dem ist Flusswasser nicht genug. So ist auch vorbildliche Regeltreue allein nicht alles. Die Quell-Sehnsucht verlangt nach mehr, - nach einer Ur-Sprungbrunnen. Sie verlangt nach dem, der das Wort des Leben hat die Quelle des Lebens ist. „Du hast Worte des ewigen Lebens.“
Albert Altenähr OSB
2007-10-17