Ein Psalmzitat in der Benediktsregel
Die Stimme des Herrn, der uns einlädt
Kommt, ihr Söhne, höret mich! Wer ist der Mensch, der Lust hat am Leben, Hüte deine Zunge vor dem Bösen |
Wer Ohren hat zu hören, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!“ Und was sagt er? „Kommt, ihr Söhne, hört auf mich! Die Furcht des Herrn will ich euch lehren. Lauft, solange ihr das Licht des Lebens habt, damit die Schatten des Todes euch nicht überwältigen.“ Und der Herr sucht in der Volksmenge, der er dies zuruft, einen Arbeiter für sich und sagt wieder: „Wer ist der Mensch, der das Leben will und gute Tage zu sehen wünscht?“ Wenn du das hörst und antwortest: „Ich“, dann sagt Gott zu dir: „Willst du wahres und unvergängliches Leben, bewahre deine Zunge vor Bösem und deine Lippen vor falscher Rede! Meide das Böse und tu das Gute; suche Frieden und jage ihm nach! Wenn ihr das tut, blicken meine Augen auf euch, und meine Ohren hören auf eure Gebete; und noch bevor ihr zu mir ruft, sage ich euch: Seht, ich bin da.“ Liebe Brüder, was kann beglückender für uns sein als dieses Wort des Herrn, der uns einlädt? Seht, in seiner Güte zeigt uns der Herr den Weg des Lebens. | |
(Ps 34, 12-16) | (RB Prolog 11-20) |
In Psalm 34 teilt uns ein Beter eine ganz persönliche Erfahrung mit: „Ich suchte den Herrn, und er erhörte mich, er hat mich all meinen Ängsten entrissen.“ Ihm läuft das Herz vor Freude über, er preist Gott und ermuntert uns, in seinen Lobpreis einzustimmen. Was er ganz konkret erlebt hat, verallgemeinert er: „Der Engel des Herrn umschirmt, die ihn fürchten, und er befreit sie.“ Deshalb will er als erfahrener, weiser Mensch, seine Söhne lehren, wie er den Herrn zu fürchten. Diese Anleitung zur Gottesfurcht übernimmt die Benediktsregel im Prolog. Benedikt hätte solche Gedanken wie der Beter des Psalms als seine eigene Erfahrung schildern können. Doch er behält die Form bei, die er in der Magisterregel (Ths 7-16) vorfindet und zitiert diese bis auf wenige kleine Varianten wörtlich.
Hier spricht der Geist zu den Gemeinden (vgl. Offb 2, 7). Die Regel greift an dieser Stelle auf die Unterweisung von Täuflingen in den Gemeinden zurück. Im Letzten spricht nicht der Bischof als Vater der Gemeinde seine Töchter und Söhne an, sondern der Geist des Herrn selbst teilt sich mit. Das erste Zitat aus Psalm 34 wird durch einen Aufruf Jesu ergänzt (vgl. Joh 12, 35). Danach wird der Sprecher neu benannt. Es ist der Herr, der in der Volksmenge einen Arbeiter für sich in seinem Weinberg sucht (vgl. Mt 20, 1). Der Gutsbesitzer aus dem Gleichnis Jesu wird hier als der Herr bezeichnet. Nach dem zitierten Wort Jesu aus dem Johannesevangelium liegt es nahe, dabei an Jesus zu denken. Auferstanden von den Toten und erhöht beim Vater bleibt er uns nahe und spricht uns im Geist weiter an.
Der Herr sucht werbend in der Volksmenge einen Arbeiter für sich: „Wer ist der Mensch, der das Leben will und gute Tage zu sehen wünscht?“ Dieser Ruf zielt auf die ganz persönliche Antwort: „Ich.“ Das erinnert an die Berufung des Jesaja: „Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen? Ich antwortete: Hier bin ich, sende mich!“ (Jes 6, 8).
Nachdem leicht variierend die Anfrage mit der darin enthaltenen Verheißung wiederholt wurde, werden mit den Worten des Psalms die Erwartungen an einen Arbeiter genannt: „Bewahre deine Zunge vor Bösem und deine Lippen vor falscher Rede! Meide das Böse und tu das Gute; suche Frieden und jage ihm nach!“ Zwei konkretere Aufforderungen rahmen einen allgemeinen Leitsatz. Um das Böse zu meiden, bedarf es der rechten Art zu reden. Dies macht einen großen Teil des menschlichen Miteinanders aus. Das Böse zu meiden genügt nicht, es gilt auch gezielt das Gute zu tun. Weder der Psalm, noch die Regel zielen auf eine Gesetzesfrömmigkeit, die allein das Übertreten von Vorschriften meidet. Es geht um einen schöpferischen Einsatz für das Gute in der Welt. Die frühchristliche Auslegung dieser Stelle verbindet sie mit der Gerichtsrede Jesu. Der Weltenrichter wird sagen, was ihr einem meiner Geringsten getan habt, dass habt ihr mir getan, was ihr ihnen nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan. Wer sich auf Erden Christus nicht in den Geringsten zugewandt hat, wird auf ewig von der Gemeinschaft mit ihm ausgeschlossen bleiben (vgl. Mt 25, 40f.45f). Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist in der Liturgie dem Gedanken Rechnung getragen worden, dass wir aufgerufen sind, das Gute zu tun. Im Schuldbekenntnis wurde einfügt „dass ich Gutes unterlassen habe“. So wird auch dies der vergebenden Barmherzigkeit des Herrn ausdrücklich anheim gestellt.
Die kleine Lehre der Gottesfurcht endet mit der Aufforderung, den Frieden zu suchen und ihm nachzujagen. Das zu Anfang erwähnte rechte Reden kann viel zu einem friedlichen Miteinander beitragen. In einer Auslegung dieser Stelle erinnert Augustinus daran, dass Christus unser Friede ist (EnPs 33,2,19). So verheißt es der Prophet Micha für den Messias (Mi 5, 4, vgl. Eph 2, 14). Wir können die Schlussmahnung lesen: Sucht den Herrn und folgt ihm nach. Unser Ziel ist die Gemeinschaft mit Christus. Bei ihm können wir im Frieden sein. Der Weg dorthin ist unser Einsatz für ein gerechtes und friedliches Miteinander. Nicht der Erfolg, sondern der Einsatz zählt und führt zur Zufriedenheit, da wir auf ein Ziel ausspannt sind, das jenseits des irdischen Lebens liegt.
Insgesamt geht es in dieser kurzen Belehrung nicht um einen besonderen Auftrag oder eine spezielle Lebensform, sondern um das ganz alltägliche menschliche Miteinander. Das Besondere der christlichen Berufung ist zugleich etwas, das uns als ganz selbstverständlich menschlich erscheint. Andererseits müssen wir zugeben, dass es schwer fallen kann, dieser Weisung zu folgen. Die Volksmenge geht nicht einfach auf diesem Weg. Es bedarf tatsächlich einer ganz persönlichen Entscheidung dazu. Gerade weil nicht etwas besonders Hartes von uns gefordert wird, kann es uns schwerfallen, eine solche Entscheidung auch entschieden Tag für Tag in die Tat umzusetzen.
Das abschließende Zitat aus Psalm 34 „Die Augen des Herrn blicken auf die Gerechten, und seine Ohren hören auf ihr Schreien“ wandelt die Regel in eine direkte Rede um und setzt dabei eine Bedingung vorweg: „Wenn ihr das tut, blicken meine Augen auf euch, und meine Ohren hören auf eure Gebete.“ Nur weil er dies zusagt, können wir uns im Gebet an ihn wenden. Es genügt nicht, den Ruf des Herrn zu hören und entschieden darauf zu antworten. Die Beziehung zu ihm nimmt erst wirklich auf, wer seiner Weisung folgt. Dann wird er erleben, dass der Herrn ihm zugewandt ist, auf ihn blickt und auf ihn hört. Folgt er trotzig oder nachlässig nicht der Weisung des Herrn, lässt er den Herrn nicht nahe genug an sich heran, um dessen Zuwendung zu erfahren. Wir fürchten den Herrn, wenn wir sein Wort ernst nehmen, nicht nur mit Wort und Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit (vgl. 1 Joh 3, 18).
Die Verheißung des Herrn wird mit einer dichten Verknüpfung von Versen aus dem Propheten Jesaja erweitert: „Und noch bevor ihr zu mir ruft, sage ich euch: Seht, ich bin da“ (vgl. 65, 24; 58, 9; 52, 6). So findet es sich schon in der Auslegung des Gebetes des Herrn für die Neugetauften durch Cyprian (c. 33). In der Zusage „Ich bin da“ klingt der Gottesname Jahwe an. Aus Ehrfurcht vor dem Namen Gottes wurde an seiner Stelle Adonai, Herr, gelesen. Die Christen übernahmen diesen Titel: „Jesus Christus ist der Herr“ (Phil 2, 11; vgl. Joh 20, 18.25.28; 21, 7) und hörten dabei den Gottesnamen Jahwe mit. Der Erste Konzil von Konstantinopel fügte im Jahr 381 in das Credo ein: „Wir glauben an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht.“ Damit wird dem Geist der gleiche Titel Herr zuerkannt. Unter dem einen Namen Jahwe – Herr - offenbart sich uns der dreieinige Gott. Durch die Menschwerdung erfahren wir in Christus besonders konkret die Nähe, die Jahwe bei der Offenbarung am Dornbusch seinem Volk zugesagt hat. In Christus bleiben Gott und Mensch auf engste miteinander verbunden.
Es fällt auf, dass die Anrede nach der ganz persönlichen Berufung in den Plural wechselt, umso mehr als der Text bei Cyprian im Singular steht und sich unmittelbar an das vorherige Psalmzitat anschließen würde. Die Regel ist für das Leben in Gemeinschaft geschrieben, ebenso führt die Entscheidung für die Taufe in eine Gemeinschaft hinein. Diese Gemeinschaft der Glaubenden bewahrt die Weisung des Herrn als ihr anvertrautes Gut. Auch wenn die einzelnen immer wieder von dieser Weisung abweichen, ist der Gemeinschaft zugesagt, dass sie als Ganze auf dem Weg des Herrn bleiben wird (vgl. Mt 16, 18).
Diejenigen, die sich einladen lassen zu kommen und zu hören, werden als Töchter und Söhne des einen Lehrers angesprochen. Untereinander sind sie Schwestern und Brüder. Benedikt wählt nun die Anrede liebe Brüder. Damit tritt er als geistlicher Vater hinter den einen Lehrer Christus zurück als Bruder unter Brüdern. In die Vorlage der Magisterregel fügt er ein carissimi - liebe - Brüder. Er will die Einladung des Herrn an die weiter geben, die ihm lieb sind, und sie auch in die Gemeinschaft mit dem Herrn führen. Es ist die vox Domini, die Stimme des Herrn, die uns einlädt. Dies erinnert an das Gleichnis Jesu vom Hochzeitsmahl. Der Einladung gilt es folge zu leisten und sich ihr angemessen zu verhalten (Mt 22, 1‑14). Der Herr zeigt uns den Weg des Lebens, der zum Fest des Lebens führt. Dabei ist uns jedes Wort der Schrift ein Wegweiser (vgl. RB 73, 3).
Die Gestaltung des Psalmzitats in der Regel kann uns Leseanleitung für die Heilige Schrift sein. In jedem Wort der Schrift lässt der Herr seine Stimme vernehmen. Damit kommt er uns näher als etwa das Wort einer Volksweisheit oder ein Märchen. Er selbst spricht uns an, weil wir ihm lieb sind, und lädt uns ein auf seinen Wegen zu gehen. Er legt uns nichts Hartes oder Schweres auf. Die Weisung des Herrn ist uns bereits ins Herz geschrieben, so dass sie dort ein Echo finden kann, wenn wir uns auf seinen Ruf einlassen. Weil es viele Stimmen gibt, die uns von unserer inneren Stimme ablenken, wird der Herr nicht müde, uns immer neu anzusprechen. Im Glauben daran, dass es wahrhaft Gott ist, der uns anspricht gewinnt dieses Wort für uns sein volles Gewicht. Wir werden in der Hoffnung bestärkt, dass wir dieser Weisung trotz mancher Fehlschläge folgen und dabei an das Ziel gelangen können. Dieses Ziel liegt außerhalb unseres irdischen Lebens, so dass wir weit ausgespannt werden, die Gemeinschaft mit dem Herrn in der ganzen Fülle zu suchen, in die wir uns auf Erden immer mehr einüben können.
Oliver J. Kaftan OSB
2009-08-01
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