Zu Regula Benedicti 58,7
„... ob er wirklich Gott sucht“. Oder: Rilke an einen jungen Dichter
Im Laufe meiner nunmehr 42 Klosterjahre hat sich mir die benediktinische Botschaft immer wieder und mehr und mehr in das Wort der Regel verdichtet: „... ob er wirklich Gott sucht“ (RB 58,7). Erst vor wenigen Tagen habe ich dazu einige Gedanken niedergeschrieben. Heute erhalte ich einen Text von Rainer Maria Rilke zugesandt, der mit einem neuen Akzent meine Gedanken bereichert. Rilke schreibt am 16. Juli 1903 an Franz Xaver Kappus[1]:
Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.
Der Adressat des Briefes – und weiterer neun – ist der schreibende Offizier F. X. Kappus, der sich vor der Entscheidung gestellt sieht, eine Karriere als Soldat zu wagen oder als Künstler zu leben. Es ist also eine Berufungsfrage, in die Rilke hinein schreibt. Franz Xaver Kappus ist gewissermaßen ein Novize im Haus der Dichtung, - Rilke ist der erfahrene Meister.
Meine Begegnungen, Gespräche und Auseinandersetzungen mit Interessenten für das Klosterleben, mit Novizen und Jungprofessen, mit gestandenen Mitbrüdern und auch mit mir selbst lassen mich behaupten: Was Rilke in diesem Briefabschnitt dem jungen Dichterkollegen schreibt, könnte ich genauso – oder zumindest ähnlich – meinen jungen und älteren Mitbrüdern und mir selbst im Horizont der Frage nach Gott sagen und sagen lassen.Und genauso überzeugt bin ich, dass der Benedikt von RB 58,7 sich hier verstanden fühlte. Ja, er würde vielleicht hinzufügen, dass er doch sein ganzes Regelopus als Lehrbrief für Anfänger und als einen ersten Anfang für den weiten Weg zu Gott hin versteht (vgl. RB 731.9).
Rilkes Worte klingen wie die eines Altersweisen, der einem um Jahrzehnte Jüngeren „distanzierte“ Ratschläge aus langsam und lange gewachsener Erfahrung gibt. Vielleicht lesen wir die Passage noch einmal, wenn wir überrascht registrieren, dass der Briefschreiber selbst erst 27 Jahre alt ist. Sind die Zeilen angesichts der eigenen Jugend des Schreibers altkluge Naseweisheiten? Der Respekt vor dem großen Dichter und die Ahnung, dass die Zeit vor 100 Jahren mit ihren Herausforderungen nicht unbedacht mit der heutigen zu vergleichen ist, lässt mit einem solchen Urteil zögern. Als Benediktiner habe ich zudem die Mahnung Benedikts im Ohr, wirklich alle Brüder um ihren Rat zu fragen, „weil der Herr oft einem Jüngeren offenbart, was das Bessere ist“ (RB 3,3). Von Benedikt selbst sagt sein Biograph, Papst Gregor der Große: „Schon von früher Jugend an hatte er das Herz eines reifen Mannes, war er doch in der Lebensweise seinem Alter weit voraus“[2].
Ich lese Rilkes Worte als die eines jungen Mannes an einen mehr oder weniger Gleichaltrigen, - als Programm, das Rilke nicht einfach nur seinem Briefpartner schrieb, sondern auch sich selbst. Ich lese Rilkes Worte außerdem als Frage an mich, den um Jahrzehnte Älteren, der nicht lebensmüde, sondern lebensfrisch leben will. Es ist die Frage, wie viel „Jugend“ ich durch die Zahl der Jahre hindurch bewahrt habe. Anders gefragt: bin ich mit den Jahren und Jahrzehnten im Sinn der Regel zu einem „senior“, - zu einem „Älteren“ herangewachsen oder bin ich alt und müde geworden? Weiß ich die Antworten, - habe dabei aber die Fragen vergessen?
Rilke formuliert die Jugend seines Gegenübers als einen Anfang vor allem Anfang. Radikaler kann vom Anfang kaum gesprochen werden. Selbst die Bibel setzt den Anfang „ im Anfang“ an (Gen 1,1; Joh 1,1). Er lädt dazu ein, genau diesen Zustand nicht schnell zu überwinden. Er lädt ein, ihn zu leben und ihn in Liebe zu beleben. Das Ungelöste und die Frage erscheinen in dieser Sicht nicht als die Katastrophe, an der man schier verzweifelt und irgenwann zerbricht. Nicht sie sind die Gefahren des Lebens. Gefährlich ist die ungeduldig schnelle Antwort. Die richtige Antwort zur verkehrten Zeit ist falsch, weil sie nicht er-lebt wurde und darum nicht gelebt werden kann.
„Die Fragen selbst lieb haben“ sollte nicht heißen die Augen vor den Antworten verschließen oder gar jeder Entscheidung aus dem Weg gehen. Es könnte aber sehr wohl heißen in jeder Antwort die Frage entdecken, die sich in dieser Antwort verbirgt. In diesem Sinn ist jede Antwort vor-läufig, d.h. sie geht den Weg ein wenig weiter, ohne aber mit dem Fragen zu einem „Schluss“ zu kommen. Die Antwort bleibt offen für die alte Frage in neuer Tiefe.
Rilke endet seine Briefpassage mit dem Satz: „Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“ Für meinen spirituellen, benediktinisch geprägten Denkhorizont bietet sich hier als Übersetzung der „Antwort“ bei Rilke Benedikts „Gott“ an, - „... ob er wirklich Gott sucht.“ Rilke formuliert seinen Satz sehr vorsichtig: „.. vielleicht, ... allmählich, ... ohne es zu merken, ... eines fernen Tages.“ Es ist eine Verheißungsahnung, auf keinen Fall aber ein Rezept.
Der letzte Satz des betrachteten Briefabschnittes gilt wohl kaum nur einem „jungen Dichter“, er dürfte auch für einen alten Mönch gültig sein. Wenn der alte Mönch Gott als Frage lieben gelernt hat und sie nach vielen Jahren immer noch liebt, dann ist er erstaunlich jung geblieben, „... so vor allem Anfang.“
Meine Gedanken wollen weder Rilke zu einem Benediktiner noch Benedikt zu einem Rilke-Jünger machen. Es gibt aber Erkenntnisse tiefer menschlicher Weisheit, die einfach gültig sind und ihre Fruchtbarkeit in jeder Lebensform erweisen können. Ich habe einiges als Benediktiner er-lebt und freue mich, bei Rilke Verwandtes entdeckt zu haben.
Albert Altenähr OSB
2003-08-08
[1] Die Briefe Rilkes an Kappus sind als „Briefe an einen jungen Dichter“ 1929 erstmals herausgegeben worden.
[2] Gregor d. Gr., Bücher der Dialoge II,1