Zu Regula Benedicti 72,10
Christus überhaupt nichts vorziehen
Zweimal wird in der Regel Benedikts die absolute Vorzugsstellung Jesu Christi ausdrücklich ins Wort formuliert. Dass die Regel insgesamt und „unabhängig“ von diesen zwei Stellen eine nahezu schnörkellos christologisch zentrierte Ordensregel ist, dürfte die Quelle ihrer ruhigen Kraft und stillen Faszination durch die Jahrhunderte gewesen sein. Der Wandel der Zeiten mag je und je aktuelle und modernere Ordensgründungen und Spiritualitäten geweckt haben, die Spiritualität der Christusmitte, wie sie bei Benedikt anbuchstabiert wird, hat ihre Gültigkeit behalten. Sie ist vielleicht nicht unbedingt „trendy-modisch“, aber aus sich heraus modern.
Die Schwierigkeit, diese Christozentrik im eigenen Inneren zu leben und sie nach außen hin verständlich zu machen, könnte darin begründet sein, dass wir als Menschen den Gehalt der Christozentrik immer wieder in Einzelpunkten „materialisieren“ müssen. Dabei geraten wir in die Versuchung, den „Mehrwert“ der Christusmitte jenseits aller Einzelrealisierungen aus dem Blick zu verlieren. Unter Umständen können wir ein sehr fromm geprägtes Leben führen, haben aber trotzdem Christus verloren. Oder anders herum gesagt: wir können alles nur Mögliche aufzählen, was unsere Christozentrik belegen soll, aber es sagt dennoch nichts von Ihm aus. Christus ist mehr als ... alles.
Im vierten Kapitel seiner Regel „Die Werkzeuge der geistlichen Kunst“ formuliert Benedikt den Doppel-Rat „Sich dem Treiben der Welt entziehen. Der Liebe zu Christus nichts vorziehen“ (RB 4,20f). Diese Verse sind die „spirituelle Achse“ des Kapitels[1] und der Regel insgesamt. Der Negativ-Rat als Folie für den Positiv-Rat weist zurück auf den Taufritus mit seiner Absage an das/den Böse/n und sein Bekenntnis zum dreifaltigen Gott. Die praktischen Konsequenzen der neuen Lebensausrichtung sind bereits im Neuen Testament angezeichnet. Die frühe Kirchengeschichte erlebte sie bis hinein in die Verfolgung und das Martyrium. Das Mönchtum seinerseits verstand sich als Erbe dieser Tauf- und Martyriums-Spiritualität. Es geht um radikale Umkehr, - wobei ich „radikal“ im ursprünglichen Sinn als Umkehr „in der Wurzel“ verstehe.
Am Ende ihrer geistlichen Weisung nimmt die Regel Benedikts das Wort des vierten Kapitels wörtlich und doch noch einmal konzentrierter auf: „Christus sollen sie überhaupt nichts vorziehen“ (RB 72,11)[2]. Als Zitat aus der Vaterunser-Katechese des hl. Cyprian an die Neugetauften – genauer noch: aus dem Zusammenhang, sich in der Verfolgung zu bewähren – weist das Wort auch an dieser Stelle zurück auf die Tauf- und Martyriums-Spiritualität, die das Mönchtum als Basis seiner Lebensweise versteht. Zumindest unser heutiges Denk-Klima, das personalistisch durchprägt ist, erkennt darüber hinaus, dass das Mönchtum der Ruf in eine personale Beziehung zu Jesus Christus ist. Es erschöpft sich nicht in einem „Abarbeiten“ von einzelnen Aufgaben und im Gehorsam gegenüber – irgendwie Christus-neutralen – Geboten und Gesetzen. Christliches Mönchtum ist mehr als ein Lebensprogramm aus dem Fundus allgemein-menschlicher Weisheit.
Einerseits ist mit diesem kurzen Überblick „alles“ gesagt, aber es bleibt doch die bohrende Frage, wie sich die große Währung „personale Christus-Liebe“ in kleinere Münze einwechseln lässt. Es kann hier nicht darum gehen, auch die allerletzte und -kleinste Facette der Christus-Liebe in den Blick zu rücken, aber ein Blick-Weg kann wenigstens in einigen Schritten gewiesen und gegangen werden.
Naheliegend ist es, als erstes das Augenmerk auf ein Regelwort zu richten, das zu den beiden Christus-Worten eine besondere Nähe hat: „Dem Gottesdienst soll nichts vorgezogen werden“ (RB 43,3)[3]. So hoch spirituell sich die Weisung anhört, so praktisch lebensnah ist der Zusammenhang, in der es steht. Der Kontext ist die ganz „banale“ Pünktlichkeit bei den Gottesdiensten und die menschliche, immer wieder einmal vorkommende oder auch sich zur Gewohnheit einschleifende Großzügigkeit im Umgang damit.
M. Puzicha weist zur Erhellung des Hintergrunds auf das Beispiel des Lériner Mönchtums hin, das eine offensichtliche Pflichtenkollision zwischen Arbeit und Chorgebet dadurch löst, dass die Lesungszeit gekürzt wird. Benedikt löst die Frage durch eine differenzierte Gottesdienst- und Tagesordnung (RB 41 u. 48). Wie ernst es Benedikt mit den Chorgebetszeiten ist, wird an den Regelungen deutlich, die er für Reisen und den Fall von Arbeiten triff, die in größerer Entfernung vom Kloster anfallen (RB 50). Die betroffenen Brüder sollen die Gebetszeiten auch fern der Gemeinschaft einhalten. „Sie sollen nicht versäumen, die Pflicht ihres Dienstes zu erfüllen“ (RB 50,4).
Die Lériner Erfahrung und Benedikts eigene spiegeln eine wohl zeitlos moderne Problematik wieder. Die durchaus legitime Entschuldigung einer Verspätung aufgrund einer bestimmten Arbeitsaufgabe ist stets in Gefahr, aus „vernünftigen“ Gründen ausgeweitet zu werden. Benedikts Insistenz ist weniger penetrante Pingeligkeit eines kleinen Geistes als vielmehr nüchterne Wahrnehmung menschlicher Mechanismen. Indem er den Anfängen einen Riegel vorzuschieben versucht, schützt Benedikt den Bruder vor sich selbst und seinen Fliehkräften.
Der Obere, der sich traut, wenigstens gelegentlich einen Mitbruder in dieser Frage kritisch anzufragen, riskiert in den meisten Fällen einen Konflikt, der schnell von der spirituellen Ebene der Frage in eine Beziehungskrise zwischen Oberem und Mönch abgleiten kann. Pünktlichkeit „an sich“ ist auf der anderen Seite aber auch nicht „ipso facto“ schon ein Garant und eine Aussage, dass der Mönch wirklich von innen heraus dem Gottesdienst nichts vorzieht. Aber es ist sicher ein Mosaiksteinchen im Bild der Gottesdienst-Wertschätzung. Diese Wertschätzung bleibt eine stets virulente Frage, die von keinem von uns vorschnell und leicht beantwortet werden sollte und beantwortet werden kann.
„Hört man das Zeichen zum Gottesdienst, lege man sofort alles aus der Hand und komme in größter Eile herbei“ (RB 43,1). „Man achte genau darauf, ob der Novize Eifer hat für den Gottesdienst“ (RB 58,7).
An den Anfang des Regelkapitels über „Die Werkzeuge der geistlichen Kunst“ stellt Benedikt das neutestamentliche Doppelgebot der Liebe: „Vor allem: Gott, den Herrn, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Ebenso: den Nächsten lieben wie sich selbst“ (RB 4,2f)[4]. Das Kapitel nimmt nicht eigentlich den allernächsten Nächsten – sprich: den Bruder im eigenen Kloster – in den Blick. Der Gesamtduktus der Regel lässt den Blick aber durchaus vorwiegend innerhalb des Klosterbereichs wandern. So sind die Brüder des Klosters als „erste“ Nächste das vorrangige Bewährungsfeld für das Gebot der Nächstenliebe.
Gott und der Nächste sind im „Vor allem ... – Ebenso ...“ zu einem gemeinsamen Primat vor allem anderen verbunden. Sie sind nicht voneinander zu trennen und nicht gegeneinander auszuspielen. Wenn einmal aus einem Kloster zitiert wurde „Das Schwierigste am Klosterleben sind die Mitbrüder“[5], dann ist das auch eine Aussage über den „schwierigen“ Gott , ... – und noch mehr über das schwierige Selbst.
Das Eingangswort der Regel „Höre“ (RB Prol 1) ist ein zutiefst kommunitäres Wort, das den Einzelnen aus der Isolation herausruft und auf den Weg der Lernens in der Begegnung stellt. Es bricht die „Selbst-Herrlichkeit“ auf, in der ich mir selbst genüge, - mein eigener Herr bin, - selbst bestimme, wo es lang geht. Wer hört, macht sich auf. Er macht sich auf den Weg zu einem anderen hin. Er anerkennt, dass da ein anderer ist, der etwas sagt, - der etwas zu sagen hat[6]. Benedikts geradezu vehementer Kampf gegen den Eigenwillen bzw. die Hartnäckigkeit und für den Gehorsam[7] sowie seine Entscheidung für die koinobitische Form des Mönchtums (RB 1) lassen sein Kloster nachgerade als eine Dialog-Gemeinschaft verstehen[8].
Das Wort von der Dialog-Gemeinschaft wäre allerdings benediktinisch falsch interpretiert, wollte man damit einem Egalitarismus das Wort reden. Der benediktinische Dialog ist stets ein Lehrer-Schüler-Verhältnis in der „Schule für den Dienst des Herrn“ (RB Prol 45)[9]. In dieser Beziehung gibt es das eindeutige Gefälle vom Lehrer zum Schüler. „Reden und Lehren kommt dem Meister zu, Schweigen und Hören dem Jünger“ (RB 6,6).
Ich zögere dennoch aus zwei Gründen heraus nicht, von einer Dialog-Gemeinschaft zu sprechen. Zum einen fächert sich die Lehrer-Rolle des letztlich einzigen Lehrer Christus so weit aus, dass jedem Bruder der Gemeinschaft – und auch dem Fremden – irgendwo und irgendwann eine bzw. die Lehraufgabe zuzusprechen ist. Nur an wenigen Stellen der Regel wird die Lehrer-Rolle der Brüder und anderer einigermaßen eindeutig formuliert. Der junge Bruder soll im Rat gehört werden, „weil der Herr oft einem Jüngeren offenbart, was das Rechte ist“ (RB 3,3). Den fremden Mönch, der in Demut und Liebe eine begründete Kritik äußert, hat der Herr vielleicht gerade deswegen geschickt (RB 61,4). Darüber hinaus gilt: wo immer in der Begegnung miteinander Christus in den Blick gewonnen wird – seien es die gereiften „Seniores“, die Kranken (RB 36,1), die Gäste (besonders die Glaubensbrüder, Pilger und Armen) (RB 53,1.15) – kommt der andere als Ansprache Gottes in der Blick. Wie umfassend Benedikt die Lehrbefugnis in seiner Gemeinschaft sieht, kommt in seiner Mahnung zum gegenseitigen Gehorsam (RB 71; 72,6) zum Ausdruck. Überall ist Gott gegenwärtig (RB 19,1).
Ich habe mich zum anderen auch deswegen zum Wort vom Kloster als einer Dialog-Gemeinschaft durchgerungen, um der Wort-Dominanz im breiten Dialog-Verständnis eine Hör-Forderung gegenüberzustellen. Ein Dialog ist nicht schon dadurch korrekt umschrieben, dass beide Seiten zu Wort kommen. Es muss ins Bewusstsein gewonnen werden, dass das Wort erst dann seine Zielgestalt gefunden hat, wenn es aufgenommen wird. Es will gehört werden. Benedikt spricht vom „Ohr des Herzens“ (RB Prol 1) und deutet damit die Notwendigkeit einer inneren Offenheit und Sensibilität an, die dem gesprochenen Wort einen Ankerplatz schenkt. Ob diese Hör-Sensibilität in der „guten alten Zeit“ stärker vorhanden war als heute, kann mit Fug bezweifelt werden. Dass wir die Forderung nach ihr heute nicht als eine sich in sich selbst verstehende Selbstverständlichkeit schnell beiseite schieben sollten, ist meine These[10]. Sich auf den anderen zu-hören und sich in den anderen ein-hören dürfte die wichtigste Aufgabe sein, die Benedikt seinen Mönchen mitgibt. Spitz – vielleicht überspitzt – gesagt: Nicht die Wortlosigkeit, sondern die Hör-Blockade ist die bedeutendste Wurzel der Gesprächsunfähigkeit (- in den Klöstern ... und nicht nur dort).
Vers 10 des Prologs greift aus der täglichen Vigil-Liturgie Psalm 95,8 als Zitat auf: „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht.“ So wenig das „Heute“ als Datum, sondern als tägliche Ausrichtung des Mönches auf das Wort Gottes verstanden werden muss[11], so anregend ist eine rabbinische Geschichte zu diesem Vers. Die Frage, wann „heute“ sei, beantwortet sie: „Heute ist, ... wenn ihr seine Stimme hört.“ Die rabbinische Weisheit deutet das Heute der Zeit in das ewige Heute Gottes um. Wo auch immer der Mensch / Mönch in den Ereignissen und Begegnungen der göttlichen Ansprache bewusst wird, da ist er im zeitenlosen Heute Gottes angekommen.
Ich lese die Regel Benedikts aus der Praxis eines benediktinischen Klosters heraus und ich lese sie auf die Praxis hin. Mein Anliegen ist es, die hohe Spiritualität zu erden und umgekehrt mir bewusst zu machen, dass der ganz normale Alltag in dem Sinn „himmlisch“ ist, dass ich seine Probleme (... und Problemchen) nicht als Sachfragen betrachte, die doch „um Gottes Willen“ nicht mit Gottes Willen, - mit seinem Ruf und meiner Berufung, - mit Spiritualität befrachtet werden sollten. Benedikts so ernüchternd nüchterne Regel sensibilisiert seine Schüler für die Gegenwart Gottes in den Banalitäten aller Tage. Gott ist kein Sonntags-Gott, - Spiritualität keine Sonntags-Veranstaltung. Benedikt will sich Gott im Jetzt dieser Stunde, - des aktuellen Geschehens, - der aktuellen Begegnung er-leben. Er müht sich darum, die Gegenwart als Gegenwart Gottes zu leben.
Albert Altenähr OSB
2003-08-24
[1] M. Puzicha, Kommentar zur Benediktusregel, St. Ottilien 2002, 108. Das Folgende ist im einzelnen in der weiteren Kommentierung der Verse von M. Puzicha belegt.
[2] Vgl. a.a.O., 604f.
[3] Vgl. a.a.O., 383f.
[4] M. Puzicha, a.a.O., 102ff, weist auch für dieses Kapitel auf den Hintergrund der Taufkatechesn und der Stärkungsunterweisung in der Märtyrerzeit hin.
[5] N. Vest, Monastics and Oblates. Mutual Blessings (Teilübersetzung: >> Link)
[6] Als Kontrastwort zu „Selbst-Herrlichkeit“ würde ich gerne „Fremd-Herrschaft“ ins Spiel bringen, aber für den Haupttext scheint mir die überstarke Negativeinfärbung dieses Wortes doch nicht genügend Nachdenk-Spielraum zu eröffnen.
[7] Siehe die entsprechenden Verweise im Stichwortverzeichnis bei M. Puzicha, a.a.O.
[8] Christian Schütz spricht in seinem einleitenden Beitrag zum Regelkommentar von M. Puzicha von einem „verborgenen dialogischen Grundriss, in dem sich Ich und Du von Christus und Mönch gegenüberstehen“ (a.a.O., 37).
[9] Zum Begriff der „Schule“ vgl. a.a.O., 63f.
[10] Dichter haben offensichtlich für diesen Zusammenhang ein besonderes Gespür, z.B. Hilde Domin in ihren kurzen Zeilen „Lyrik – das Nichtwort // ausgespannt / zwischen // Wort und Wort“ oder Nelly Sachs in ihren Gedichten „Lange haben wir das Lauschen verlernt!“ und „Wenn die Propheten einbrächen durch Türen der Nacht“ (N. Sachs, Fahrt ins Staublose, st 1485, 18f bzw.92ff).
[11] Puzicha, a.a.O., 53.