Psalmen
Brunnengespräche zwischen Gott und dem Menschen
Ob im Märchengut der Völker, in der Welt der namentlich bekannten Dichter, in der Geschichte und den Geschichten der Bibel, - Brunnen sind Vorstellungsorte, die von Tod und Leben, von Untergang und Neubeginn, von vertaner und erfüllter Chance erzählen. Märchen wie Frau Holle und Froschkönig gehören zum „Schatz“ der Märchentradition. Nelly Sachs schrieb ein Gedicht „Aber deine Brunnen sind deine Tagebücher o Israel!“, - Hubertus Halbfas eine Gebetsschule „Der Sprung in den Brunnen.“
Am Brunnen findet Abrahams Großknecht für Isaak seine künftige Frau Rebekka (Gen 24,12-27), - Jakob seine Rahel (Gen 29,1-14), - Mose die Zippora (Ex 2,15-22). Die orthodoxe Kirche verehrt als Verkündigungsort in Nazareth den Gabrielsbrunnen, den alten Brunnen der Stadt. Am Brunnen spricht in dieser Tradition der Erzengel Maria an. Am Jakobsbrunnen von Sychar zieht Jesus die samaritische Frau in ein Gespräch und erschließt ihr einen neuen Weg (Joh 4). An den Brunnen und seinen Gesprächen werden Israels Mädchen gewissermaßen Frauen, Mütter, Erwachsene.
Der Maler Sieger Köder lässt in einem seiner Bilder die samaritische Frau in den Brunnen hinabschauen und im Wasser unten spiegeln sich zwei Gesichter: ihr eigenes und das ihres Gegenübers, Jesus. So wenigstens ist die schnelle naheliegende und einleuchtende Gedankenverbindung. Es lässt sich aber durchaus auch allgemeiner sagen: die Frau sieht das Gesicht, das sie für sich selbst und alle Welt vor sich herträgt, und ein zweites anderes, das sie auch in sich hat. Die samaritische Frau sieht in der Tiefe ihre eigenen Abgründe und zugleich neue Möglichkeiten. Sie sieht, was ihr fehlt, um ganz zu sein. Sie sieht den Anspruch, auch zu dem „anderen Gesicht“ ihr Ja zu sagen.
Nach mehr als 40 Jahren in der Gebetsschule der Psalmen möchte ich den oben zitierten Gedichtanfang der Nelly Sachs variieren: „Die Psalmen sind deine Brunnenspiegel, o Beter“. Sie sind Spiegel, in die Gott mich hineinschauen lässt. In den Psalmen erkenne ich Gott als den festen Grund des Lebens, - die Freuden und Verheißungen eines Lebens auf diesem Grund, - unerfüllte Sehnsüchte, - aber auch die Abgründe, die gleichermaßen in mir zu Hause sind. Kurz: ich sehe in den Spiegel des „richtigen Lebens“, wie es ist und wie es auch in mir gegenwärtig ist.
Das bedeutendste Geschenk, das mir die Psalmen anbieten, ist ihre vielfältig befremdliche „Fremdheit“. Ja, dass sie so befremdend fremd sind, erfahre ich als ihr großes Geschenk. Sie sind nicht von mir erfunden, - sie geben nicht einfach meine jeweilige Stimmung wieder, - sie sprechen in ihren Sprachbildern nicht gerade aus dem modernsten Erfahrungshorizont und in ihren Sprachinhalten entsprechen sie durchaus nicht der gängigen christlichen „political correctness“. Ja, sie sind „fremd“, aber genau das macht sie wertvoll. Sie sind eine Herausforderung und sie bleiben eine Herausforderung. Ich bin gefordert, aus meinem religiösen „Eigenheim“ herauszutreten, um mich auf den einzulassen, der bei mir vor der Tür steht und mich mit seinem Wort konfrontiert.
Gewiss sind die Psalmen Gebetsworte von Menschen, aber die jüdisch-christliche Tradition hat sie gleichzeitig aus den geschichtlichen Bedingtheiten „herausgelöst“ und in den Gültigkeitsbereich Gottes gestellt. Sie sind Gottes Wort, - Worte mit denen sich Gott selbst identifiziert, - heilige Schrift. In diesem Sinn sind sie nicht einfach schnelle Identifikationstexte (oder auch nicht), wenn sie mir denn gefallen (oder auch nicht), sondern Konfrontationstexte, die zuerst gehört werden wollen, bevor sie gesprochen werden wollen. Indem ich sie spreche, spreche ich nicht einfach nur mich aus, - schließe mich auch nicht nur einem anderen menschlichen Beter an (- so bedeutsam solidarisches Beten ist!), - sondern ich spreche auch immer Gottes Wort.
Wenn ich das ernst nehme, dann kehren die Psalmen und das Psalmenbeten das Gebetsverständnis radikal um, – um 180°. Es gilt nicht mehr einfach die Sprachrichtung von mir zu Gott hin. Ich rede und Gott hört, - er hat zu hören und zu erhören. Die Sprachrichtung ist zunächst und immer wieder umgekehrt: von Gott zum Menschen. Rede, Herr, dein Diener hört. Erst diese Hörbereitschaft und –fähigkeit ermöglicht und ermächtigt zum Gebet. Ein Anruf erreicht mich, - ich nehme den „Hörer“ ab, - höre in ihn hinein, - re-agiere. Die „Leitung“ muss gelegt sein, - sie muss frei sein, - sie muss aktiviert werden. Es gehört viel Arbeit dazu, bis das „Ferngespräch“ funktioniert und die gelegte Leitung darf auch nicht gekappt sein.
Indem ich die Psalmen bete, wie sie sich mir anbieten, - indem ich mich unter sie stelle (weil ich ihnen unterstelle, dass sie Gottes Wort sind), sind sie eine Schule der Demut. Ihre menschliche und mehr noch ihre göttliche Fremdheit zwingen mich, mich selbst zurückzunehmen. Gewissermaßen sind sie ein doppelter Imperativ: Untersteh dich ...! – Unterstelle dich!
Die sperrige Fremdheit der Psalmen verführt dazu, hier und da (... und überhaupt! ...) die Jalousien vor einzelnen Versen, einzelnen Psalmen und/oder den Psalter insgesamt herunterzulassen. Wir nehmen gerne hier und dort etwas Gefälliges aus dem Schatz heraus, - wir nehmen uns etwas heraus. Wir nehmen die Psalmen auseinander, aber es wäre weiterführender, uns mit ihnen auseinanderzusetzen und uns dabei mit uns selbst auseinanderzusetzen.
Ist es vielleicht so, dass die Langweiligkeit der Geschichtserzählungen in den Psalmen uns auf unsere eigene wurzellose Geschichtsfremdheit aufmerksam macht? Piekst die Selbstgerechtigkeit manches Psalmverses die eigene, oberflächlich kaschierte Selbstgefälligkeit? Erzählen die vielen Feinde, die der Psalmenbeter ins Wort bringt, auch von unseren Animositäten, die wir nicht in den Griff bekommen? Haben wir möglicherweise das Ideal so fest im Blick, dass wir die Wirklichkeit – auch unsere eigene – aus dem Auge verlieren?
Ein nüchterner Blick in die Regel Benedikts offenbart, dass Benedikt seine Regel nicht für eine Ansammlung „heiliger Männer“ geschrieben hat. Seinen Mönchen scheint nichts – oder doch nur sehr wenig – Menschliches fremd gewesen zu sein. Aber sie gaben sich weder mit dem Ist-Zustand bequem zufrieden, noch resignierten sie sich tiefer und tiefer in ihn hinein. So unvollkommen sich die Gemeinschaft und jeder einzelne in ihr auch darbieten, so sehr weiß Benedikt sich auf die Barmherzigkeit Gottes verwiesen und in ihr geborgen (RB 4,74). Aus diesem Wissen ist ein kraftvolles Ausschreiten auf die Zukunft der Gegenwart Gottes möglich (RB 73).
Auf der zwölfsprossigen Demutsleiter des 7. Regelkapitels verweist Benedikt in der letzten, der höchsten Demutsstufe auf den Zöllner aus dem Evangelium, der die Augen zu Boden senkt. In der Haltung des Zöllners bekennt sich der Mönch als „humiliatus usquequaque – tief erniedrigt“ (RB 7,65f). Ich frage mich, ob dieses Bekenntnis der Demut (humilitas) nicht dahingehend verstanden werden sollte, dass der Mönch aufgefordert wird, wirklich tief („usquequaque“ – bis zum „Geht nicht mehr“) in sich hineinzuschauen. Er sagt „Ja“ zu den erschreckenden Abgründen, die er in sich selbst entdeckt, und hat zugleich den Mut zum abgrundtiefen Vertrauen, dass er auch in diesen Dunkelzonen nicht gottverlassen ist.
Psalm 1 gibt eine Empfehlung für das Psalmenbeten: „Selig der Mann, der Seine Weisung murmelt tages und nachts.“ Der Psalmenleser wird eingeladen, den „Brunnen“ der Psalmen als andauerndes „Bachgemurmel“ zum Klingen zu bringen. Es ist dieselbe Wirklichkeit, die der Evangelist Lukas in einem anderen Bild von Maria bezeugt: Sie bewahrte und bewegte das Geschehen um die Geburt Jesu in ihrem Herzen.
Die Regel Benedikts beginnt mit dem Wort „Höre, mein Sohn, und neige das Ohr deines Herzens ...“ (RB Prolog 1). Es ist das Vor-Wort zu allem, was Benedikt seinen Mönchen vor-schreibt, - also auch das Vor-Wort zu allen Ant-Worten der Gebete. Dem „geneigten Ohr“ entspricht in der oben erwähnten 12. Demutsstufe des 7. Regelkapitels der Hinweis, dass der vollkommene Mönch sein Haupt geneigt hält und den Blick zu Boden gerichtet hat. Der Regelkommentar der Salzburger Äbtekonferenz weist auf den biblischen Hintergrund hin, dass Jesus sein Haupt neigt und so sein Leben sterbend dem Vater übergibt (Joh 19,30).
In diesen Regelkontext hinein gebetet können die Psalmen Wegbegleiter in die mutig-demütige Selbsterkenntnis werden, die das Tor zu neuem Reichtum öffnet (Matth 5,1). Nelly Sachs sagt in dem eingangs erwähnten Gedicht „Aber deine Brunnen ...“ von den Brunnentiefen: „darunter die Landschaften Gottes zu blühen beginnen.“ In der Geschichte von Hubertus Halbfas ist dieser Punkt erreicht, wenn der Strick „leicht“ wird.
Die Geschichte von Hubertus Halbfas möchte als Abschluss dieser Gedanken anregen, das Angedeutete in eigenen Weiter-Gedanken noch einmal anders und ganz eigen zu bedenken:
„Da ging eines Tages der Knabe zu seinen Brüdern. Er sagte zu ihnen: "Gebt acht! Ich will, daß wir zusammen einen merkwürdigen Ort aufsuchen."
"Wohin willst du uns führen?" fragten die Brüder.
"Ich will euch dahin führen, wo ihr die Wahrheit über euch selbst erfahren sollt."
Die Brüder baten ihn: "Laß es doch sein, es lohnt sich nicht. Danke, wozu sollen wir schon wieder ausziehen?" Sie wollten nicht gehen. Der Jüngste aber bestand darauf: "Entweder kommt ihr mit, oder ich bringe mich um!" So zwang er sie, mit ihnen zu gehen.
Sie gingen lange, und noch am selben Tage kamen sie zu jenem Brunnen. Der Jüngste sagte zum Ältesten: "Ich will dich anbinden und in den Brunnen hinunterlassen. Schau dir an, was es dort im Brunnen gibt."
Der Älteste fing zu weinen an. "Warum willst du mich in den Brunnen hinunterlassen?" Er hatte Angst, in den Brunnen zu gehen. Er bat um Gnade. Der Jüngste sagte zu ihm: "Bitte nicht um Gnade, wir müssen dorthin!" Er band ihm den Strick um und ließ ihn hinunter. Aber kaum war der Bruder ein paar Klafter tief, fing er an zu schreien und zu weinen an, - noch ein bißchen und die Angst zerreißt ihn. "Ich sterbe, ich sterbe!" Er war noch nicht einmal ein Viertel des Brunnens hinunter. Der Knabe zog ihn heraus, denn er sah, was für ein Mensch das war.
Dann kam der zweite. Der Knabe band auch ihn und ließ ihn hinunter. Er war kaum bis zur Hälfte des Brunnens gekommen, da begann er zu schreien vor lauter Angst. "Ich sterbe, ich sterbe!" Er zog ihn heraus.
Dann kam die Reihe an den Jüngsten. Er sagt: "Hört zu! Wieviel ich auch weinen und schreien werde, zieht mich nicht hoch. lasst mich hinunter, bis ihr fühlt, daß der Strick leicht geworden ist." Die Brüder fingen ihn zu bitten an: "Du bist unser Jüngster! Warum willst du von uns gehen?" Sie baten, er möge sie doch nicht verlassen, aber er wollte nicht auf sie hören. Da banden sie ihn und ließen ihn hinunter.
Schüler: Das ist eine schöne Geschichte. Ich möchte wissen, wie sie weitergeht.
Lehrer: Es ist nicht irgendeine Geschichte, es soll deine Geschichte werden. Wohin sie führt, mußt du selbst erproben.
Schüler: Aber wo gibt es den Brunnen, in den ich springen könnte?
Lehrer: Weitab und doch nahe. "Sie gingen lange, und noch am selben Tag kamen sie an", heißt es. Je weiter du in die Welt ausschweifst, umso entfernter bist du ihm. Suchst du bei dir, schaust du über seinen Rand.
Schüler: Dann ist der Brunnen in mir?
Lehrer: Deine eigene Tiefe!
Schüler: Aber warum dann Angst haben. Was in mir ist, muß ich doch nicht fürchten?
Lehrer: Nichts ist den Menschen unbekannter und erschreckender als die eigene Seele. Die meisten Menschen haben Todesängste, in das Brunnenloch zu steigen und den Abstieg zum unbekannten Seelengrund zu wagen. Sie leben nur außen, von allem gefesselt, was zur Schau gestellt wird, aber sie werden schon verwirrt, wenn sie nur einen Blick über den Brunnenrand werfen sollen. Ihre Sicherheit liegt im Geläufigen der äußeren Welt; vor der Tiefe in sich selbst sind sie in hilfloser Not. Aber der Brunnen ist noch nicht verschüttet. Wer ehrlich will, kann ihn finden und das Wagnis beginnen.
Abt Albert Altenähr OSB
2002-12-24