zu Psalm 60,6
„Ein Zeichen, zu dem wir fliehen können.“
Psalm 60 gehört nicht zu den Gebeten, die sich in das Herz der heutigen Beter einschmeicheln. Er ist so gefüllt mit Orts- und Landschaftsnamen, dass er mehr verwirrt als erleuchtet. ... Sichem, Sukkot, Gilead, Manasse, Efraim, Juda, Moab, Edom ... Wo liegt das alles? Und wenn ich das durch Nachschlagen oder Wissen dann vielleicht doch im Kopf präsent bekomme, bleibt die Frage: was sollen all diese Orte im Psalm aufleuchten lassen? Und dann kommt noch einmal die weitere Frage: Was kann ich heute mit dieser verwirrenden Namensvielfalt anfangen?
Psalm 60,3–14: „Du hast uns verworfen, o Gott, und zerschlagen.
Du hast uns gezürnt. Richte uns wieder auf!
Erschüttert hast du das Land und gespalten.
Heile seine Risse! Denn es kam ins Wanken.
Du hast dein Volk hart geprüft,
du gabst uns betäubenden Wein zu trinken.
Für alle, die dich fürchten, hast du ein Zeichen aufgestellt,
zu dem sie fliehen können vor dem Bogen. [Sela]
Hilf mit deiner Rechten, erhöre uns,
damit die gerettet werden, die du so sehr liebst.
Gott hat in seinem Heiligtum gesprochen:
«Ich will triumphieren, will Sichem verteilen
und das Tal von Sukkot vermessen.
Mein ist Gilead, mein auch Manasse,
Efraim ist der Helm auf meinem Haupt,
Juda mein Herrscherstab.
Doch Moab ist mein Waschbecken,
auf Edom werfe ich meinen Schuh,
ich triumphiere über das Land der Philister.»
Wer führt mich hin zu der befestigten Stadt,
wer wird mich nach Edom geleiten?
Gott, hast denn du uns verworfen?
Du ziehst ja nicht aus, o Gott, mit unseren Heeren.
Bring uns doch Hilfe im Kampf mit dem Feind!
Denn die Hilfe von Menschen ist nutzlos.
Mit Gott werden wir Großes vollbringen;
er selbst wird unsere Feinde zertreten.“
Ich will die Vielfalt ohne geographischen und geschichtlichen Erklärungsversuch einfach einmal so stehen lassen. Ich möchte hier das Verwirrende und Bedrängende dieser Vielfalt in den Blick rücken. Sie ist mir ein mögliches Bild unseres Lebens. Wir kennen die Redensart „Abwechslung macht Spaß – gut Lateinisch: Varietas delectat.“ So richtig das ist, genauso richtig ist das andere: Wechsel und Änderungen, - das und die Fremde verunsichern. Es ist schön, wenn das Leben bunt ist, aber manchmal ist es so bunt gemischt, dass es uns zu bunt wird, - dass uns die Buntheit über den Kopf wächst und die schönen bunten Farben hinüberwechseln ins Grau oder gar Schwarz der Probleme.
Wo finde Ich Halt und Orientierung, wenn alles drunter und drüber geht?
In Psalm 60 lese ich die Botschaft: „Für alle, die dich fürchten, hast du ein Zeichen aufgestellt, zu dem sie fliehen können vor dem Bogen.“ ... ein Zeichen, zu dem man, - zu dem ich fliehen kann!
Zeichen sind wichtig, - Signalzeichen geben Informationen, - Leuchtfeuer weisen Wege an den Küsten entlang und in die sicheren Häfen. Solche Zeichen sind lebensnotwendig, - überlebensnotwendig, wenn die Lebensnot groß wird. Psalm 60 spricht von einem Zeichen, das Asyl, Geborgenheit verheißt. Im Psalm selbst wird eine „befestigte Stadt“ in Edom erwähnt (Vers 11), die offensichtlich Fluchtziel des verängstigten Psalmisten ist [1].
Beim Zug der Israeliten durch die Wüsten des Sinai wird von einer Situation erzählt, in der Giftschlangen vielen aus dem Volk zum Verhängnis wurden. Das Volk kommt zu Mose und bittet ihn: „Bete zum Herrn, daß er uns von den Schlangen befreit. Da betete Mose für das Volk. Der Herr antwortete Mose: Mach dir eine Schlange, und häng sie an einer Fahnenstange auf! Jeder, der gebissen wird, wird am Leben bleiben, wenn er sie ansieht. Mose machte also eine Schlange aus Kupfer und hängte sie an einer Fahnenstange auf. Wenn nun jemand von einer Schlange gebissen wurde und zu der Kupferschlange aufblickte, blieb er am Leben“ (Num 21,7-9). Die eherne Schlange war ein Zeichen, zum dem das Volk aufblickend fliehen konnte und Heilung fand. Die Kirchenväter haben die Erzählung als Vor-Zeichen für das Kreuz Jesu Christi gedeutet. Ja, für uns Christen ist das Kreuz ein Heilszeichen geworden, zu dem wir Zuflucht nehmen dürfen.
Wie der Sänger von Psalm 60 erkenne ich aber nicht nur die eindeutig religiösen Heilszeichen – sei es die eherne Schlange für das wandernde Volk des Alten Bundes, sei es das Kreuz für das Volk des Neuen Bundes – als Zeichen der Zuflucht, die Gott gesetzt hat.
Zeichen der Zuflucht und Heimat können Orte sein, die mit dichten Erlebnis-Erinnerungen gefüllt sind, ...- der Ort eines Kusses, aus dem sich eine tragende Freundschaft entfaltete, ... – ein Baum, in dem ich mich in einer glücklichen Stunde „verewigte“, ... – der Kirchraum, in dem ich regelmäßig in einer vertrauten Betergemeinschaft bete, ... – die Grabeskirche in Jerusalem, die ich in der Pilgerlosigkeit der Intifada so still erlebte, ... – das mitternächtliche Ufer des Gave in Lourdes, in dessen Murmeln sich fragende Gespräche ohne Antworten mischten.
Zeichen, zu denen ich fliehen kann, gibt es viele, am wichtigsten aber sind wohl die Menschen, denen ich vertrauen kann, - und vor allem der, dem ich rückhaltlos vertrauen kann, - in den hinein ich mich fallen lassen kann ohne die Angst, fallen gelassen zu werden. Wer ihn gefunden hat, der ist zu beglückwünschen. Vielleicht ahnt der Mensch es gar nicht, aber in solche zwischenmenschliche Erfahrung hat sich der eingezeichnet, von dem die Psalmen immer wieder singen: Er ist mein Fels, mein Hort, meine Festung.
Selig der Mensch, der einen Menschen gefunden hat; denn er hat Gott gefunden.
Abt Albert Altenähr OSB
2001-08-11
[1] Über die Stadt als Heilszeichen würde sich eine eigene Meditation lohnen. Vgl. Ps 107,4-10; Hebr 11,8-16; Offbg 21.