zu Psalm 119,18
Öffne mir die Augen
Seit langem faszinieren mich die biblischen Bitten und Erzählungen, die von dem Verlangen nach innerer Offenheit sprechen. Die Sehnsucht, mehr zu sehen, als der erste Augenschein offenbart, - die Sehnsucht, mehr zu hören, als der Oberflächenklang als Tonschwingung an das Ohr heranträgt, - die Sehnsucht, mehr zu spüren, als der erste Eindruck vermittelt, ist groß. Mir will scheinen, dass solche Sehnsucht die Quelle aller Spiritualität ist, - ja, dass sie die eigentliche Mitte und der Gehalt von Spiritualität ist. Glaube, Hoffnung und Liebe leben aus und in dieser Sehnsucht nach dem Mehr.
Mein Verlangen geht in dieser Sehnsucht zugleich nach immer weiter wachsender Weite und nach größerer und größerer Tiefenschärfe. Ich sehne mich nach dem Mittepunkt, in dem das Ganze aufleuchtet und dessen Licht weit ausstrahlt.
Ob ich es mit dem hl. Benedikt sage: „neige das Ohr deines Herzens“ oder mit dem kleinen Prinzen Saint-Exupérys: "man sieht nur dem Herzen gut“, - ich weiß, dass nur die Dinge, die ich mir - buchstäblich! - zu Herzen gehen lasse, sich mir öffnen und mir zu eigen werden. Was draußen bleibt, haftet nur äußerlich, - es erreicht mich nicht wirklich. Darum reicht es mir auch nicht und macht mich nicht reich.
Der kleine Prinz sagt es auch noch einmal anders: „Es macht die Wüste schön, dass sie einen Brunnen birgt.“ Die Wüste wird nicht einfach weggeträumt. Es gibt sie, - sie wird wahrgenommen, und sie bleibt nach wie vor Wüste. Und doch verändert der Brunnen-Juwel in der Wüste die Begegnung mit ihr.
Ich habe in den vergangenen Tagen in Wien die Hofburgkapelle besucht. Der Raum hat mich nicht nur nicht fasziniert, er hat mich im ersten Moment erschreckt. Grau, dunkel und trist wirkte er auf mich. In der Mitte des Raumes ein Kristalllüster, der auf den ersten Blick auch nur ist, was er ist: halt ein venezianischer Kristalllüster. Dann stellte ich mich mitten unter ihn und schaute empor und es war auf einmal ein Sternkristall, der über mir schwebte. … Ein anderer Blickwinkel, … eine neue Sicht auf das Detail und der Raum erhält eine ganz neue Erinnerungsdimension.
In Psalm 119,18 lese ich: „Öffne mir die Augen für das Wunderbare deiner Weisung.“ Vieles ist mir dunkel in der Heiligen Schrift. Gegen manches möchten mein Verstand und mein Verstehen rebellieren. Es gibt aber auch die Licht-Verse, die Licht-Erzählungen und die Licht-Gestalten in der Bibel. Sie vermitteln solche Faszination, dass ich mich auf das Ganze einlassen kann.
Dasselbe kann ich auf die Kirche und auf mein - und jedes? - Kloster variieren. Der strahlende Glanz des Rundum-Erlöstseins will sich mir so gar nicht auftun. Aber sind da nicht doch hier und dort und wo auch immer Glitzersterne vom Himmel auf die Erde gefallen? Sie lassen in all ihrer Bruchstückhaftigkeit den Himmel ahnen, machen die Erde lebens- und liebenswert und locken auf den Weg des Glaubens.
Öffne mir die Augen, Herr. Lass mich aufgeschlossen sein, dass ich aus mir herauskomme und dich einlasse.
Abt Albert Altenähr OSB
2006-09-30