Psalmen beten
Sich Gott er-innern
Die aktuelle Tischlektüre unseres Konventes[1], zumal der grundlegende Einleitungsbeitrag, lässt mich wieder einmal über das bzw. ein mögliches Zentralanliegen des Psalters und seines Betens nachdenken. Die beiden Herausgeber des Buches haben ihre Einführung unter die Überschrift gesetzt: „’Tut dies zu meinem Gedächtnis’ Das Christentum als Erinnerungsreligion“[2] Die Spannweite und die Reflexionstiefe der Ausführungen geben zahlreiche Anregungen zu eigenem Nachdenken über manches scheinbar „Selbstverständliche“, das zum (nicht selten schon abgegriffenen) Standard religiösen Gebrauchswissens gehört.
Die erste Überraschung ist vielleicht schon, sich auf die Weite einzulassen, die die beiden Autoren dem Begriff „Ort“ abgewinnen. Es sind nicht einfach und nur „reale, auf einer Landkarte identifizierbare Orte“ (13). „Erinnerungsorte können vielmehr grundsätzlich materieller und immaterieller Natur sein. Es kann sich um historische, aber auch mythische Ereignisse oder Persönlichkeiten, Rituale, Liturgien, Institutionen, Texte oder Kunstwerke handeln. Dabei geht es nicht um den materiellen oder immateriellen Ort als solchen, um seine faktische Existenz in Raum und Zeit. Vielmehr geht es um das symbolische Kapital, das der Ort transportiert und das mit ihm verbunden wird. … eine Art von Kristallisationspunkt … Ein Erinnerungsort regt zur Erinnerung an und beschwört die Gegenwart des Vergangenen“ (ebd.).
Diese Auf-Weitung des Begriffes „Ort“ trifft sich mit dem Verständnis der Psalmen als Literaturform der Dichtung. Sie sind kein stenografisches Sachprotokoll von irgendetwas, kein Tagesschau- oder Zeitungsbericht. Ihre einzelnen Worte begrenzen sich nicht auf den Inhalt, den ich ihm heute entsprechend meiner kulturellen und soziologischen Heimat üblicherweise zu-erkenne. Sie haben ein Sach- und mehr noch Symbolkapital über die Grenzen der Alltagssprache hinaus. Die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit eines Mehrwerts der Sprache der Psalmen anzunehmen, ist ein Weg, vielleicht sogar der einzige Weg, ihnen nahezukommen. Das verlangt gewissermaßen vom Beter, dass er selber ein Dichter wird, der sich die Psalmen erdichten muss. Eine „richtige Übersetzung“ allein genügt nicht. Sie bleibt „falsch“ und wird an der „Seele“ des jeweiligen Psalmes vorbeischauen.
Markschies und Wolf weisen auf die zentrale Erschütterung hin, die die Eroberung Jerusalems (587 v.Chr.) und das anschließende Exil in Babylon für Israel bedeutete. Das hätte das Ende der kollektiven Identität des Volkes sein können. „Durch die ‚kontrapräsentische Erinnerung’ an die Heilstaten Gottes in der Geschichte konnte das Volk Israel (aber) im Exil seine Identität wahren und auf einen neuen Exodus, eine neue Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten, hoffen, die dann ja im Edikt des persischen Großkönigs Cyrus ja auch eingetreten (ist)“ (14).
Vieles weist darauf hin, dass der Psalter in großen Teilen der exilischen und nach-exilischen Wirklichkeit Echo gibt. Die von den beiden Autoren so genannte „kontrapräsentische Erinnerung“ bringt im Heute des Unglücks das Gestern zur Sprache, das nicht weniger bedrückend war, und hebt die damalige Erlösung aus dem Leiden ans Licht. In Psalm 136,13 - genau die Psalmenmitte! – z.B. geschieht das in der Formulierung: „Das Schilfmeer zerschnitt er in Teile, denn seine Huld währt ewig.“
Die Exoduserfahrung ist wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Babylonischen Exil zu der Bedeutung herangewachsen, die sie in der jüdisch-christlichen Tradition bis heute hat. Sie ist der Zentralort der Zukunftszuversicht, der christlicherseits nur noch vom österlichen Christusereignis überstiegen wird. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass der suchende Blick der Beter nach einem Ankerplatz der Sicherheit für das Leben „geschichtlich“ weit darüber hinaus geht. Wo immer die Schöpfung erwähnt wird, darf als mitschwingendes Element beachtet werden, dass Jahwe ihr Urheber und so ihre Garantie- und Gewährsmacht ist. „Mag wanken die Erde samt allen, die auf ihr wohnen; * ich selber habe ihre Säulen fest gegründet“ (Ps 75,4). Die etablierte Einleitungsformel vieler religiöser Feiern: „Unsere Hilfe ist im Namen des Herrn, * der Himmel und Erde gemacht hat“ (Ps 121,2; 124,8) kann unseren Blick in diese Richtung schärfen und unser gebetete Hoffnung stärken.
Huld und Treue als poetischer Erinnerungsort
Ein zentraler poetischer Erinnerungsort – um die Begrifflichkeit von Markschies und Wolf aufzugreifen -, für diese Gottes-Versicherung ist die Ansage, Jahwe sei ein Gott der Huld und Treue. Das heute wohl nur noch wenig vertraute Wort Huld wird in unseren Übersetzungen teilweise auch durch andere Worte, z.B. Liebe, wiedergegeben. Dieser Versuch, das eine hebräische Wort „Chesed“ durch verschiedene Übersetzungen zu variieren, verschleiert ein wenig die eindrückliche Häufigkeit und damit das Gewicht des hebräischen „Chesed“ im Psalter. Der Begriff „Treue“ wird schon im Hebräischen immer wieder variiert oder aufgedröselt, indem die bleibende Zuverlässigkeit des Handelns Jahwes angesprochen wird, etwa in der Formel „… denn deine Huld währt ewig“.
Die „Chesed“ Jahwes erschließt sich nicht, wenn wir einfach vom inhaltlichen Klang des Wortes heute ausgehen. Der unmittelbare Kontext innerhalb der Psalmen ist da klärender. In Psalm 77,6.8-10 z.B. heißt es:
Ich denke nach über die Tage von einst, *
über urlängst vergangene Jahre. …
Wird der Herr denn auf ewig verstoßen *
und niemals mehr erweisen seine Gunst?
Hat seine Liebe[3] für immer ein Ende? *
Ist es aus mit seinem Wort für alle Geschlechter?
Hat Gott vergessen, daß er gnädig ist? *
Hat er im Zorn sein Erbarmen verschlossen?
Wenn ich die obigen Verse insgesamt betrachte, dann wird Huld als Zuwendung charakterisiert. Jahwe hat sie dem Beter in oder seit „urlängst vergangenen Jahren“ erwiesen; die Gegenwart wird dagegen als Abwendung Gottes erfahren. Näher wird die Huld mit Worten wie „Gunst“, „Liebe“, „gnädig“, „Erbarmen“ eingekreist.
Im weiteren macht derselbe Psalm 77 deutlich, dass Huld keine abstrakter Begriff oder dass sie eine rein innerliche Haltung ist. Sie umschreibt vielmehr ein sehr konkretes Handeln Jahwes zugunsten des Menschen. Der Psalm spricht von „Taten“, „Wundern“, „Werken“, „Macht(erweisen)“, um schließlich noch konkreter die eine, die besondere (Groß-)Tat der Befreiung aus Ägypten in den Erinnerungsblick zu rücken. Das rettende Wunder am Schilfmeer (Verse 17-21) wird dann ausgemalt mit einem großen Gewitter. Das ist ein Szenario, das so gelegentlich auch für die Schöpfungstat oder den Bundesschluss am Sinai verwandt wird.
Ich denke an die Taten des Herrn, *
gedenken will ich deiner einstigen Wunder!
Ich erwäge all deine Werke, *
und über deine Taten sinne ich nach. …
Du bist die Gottheit, die Wunder tut, *
unter den Völkern tatest du kund deine Macht.
Du hast mit deinem Arm dein Volk erlöst, *
die Kinder Jakobs und Josefs. (Ps 77,12-16)
Huld und Treue Jahwes scheinen dem Psalter eine so wichtige Ansage zu sein, dass er diese beiden Worte zu einem ganzen Psalm macht, mit zwei Versen dem kürzesten des gesamten Psalters (Ps 117). Nach dem Aufgesang in Vers 1 beschränkt er sich auf den „springenden Punkt“ der Huld und Treue. Spitz gesagt: Dieser Vers ist „in nuce“ der ganze Psalter der 150 Psalmen.
Denn mächtig waltet über uns seine Huld, *
die Treue des Herrn währt in Ewigkeit.
Das reicht als Psalm, - als ein ganzer, vollständiger Psalm, - vielleicht könnte man sogar sagen: als der gesamte Psalter mit seinen 150 Liedern.
Die Zusammenstellung von Huld und Treue als Charakteristika Jahwes sind in den Psalmen insgesamt relativ so häufig, dass man sie fast als Namensdeutung des Gottesnamens verstehen könnte: „Ich bin, der ich (handelnd für dich da) bin.“ Oder sprachlich (poetisch?) ein wenig weiter gespielt: „Ich bin der, der dir Gutes tut. / Ich bin der, der dir gut tut“, … und umgekehrt vom Menschen zu Gott hin fast als Bekenntnis und Kurzgebet: „Du tust gut.“
Weil Huld und Treue so tief in Gott verankert sind, können sie als Gebetsworte poetischer Erinnerungsort für jegliches Ereignis in Zeit und Vorzeit und für jede gute Erfahrung im Leben der Menschen werden. Psalm 136 und Psalm 107 sind dafür gute Beispiele. Die frühere Hulderfahrung wird ins Heute hineinerinnert und für das Morgen beschworen. Der Beter nimmt Gott beim Wort und bei seinen Taten, … oder zugespitzter noch: der Beter bestürmt Gott bei seiner Identität. „Du Gott der Huld und Treue, sei du selbst.“
Herr, wo sind die Taten deiner Huld[4] von einst? *
Du hast doch David bei deiner Treue geschworen! (Ps 89,50)
Albert Altenähr
2017-06-30
[1] Christoph Markschies (Hg.), Hubert Wolf (Hg.), Erinnerungsorte des Christentums, München 2010.
[2] A.a.O., 10-27
[3] Im Hebräischen steht das Wort „Chesed“. Die Einheitsübersetzung gibt es mit „Huld“ wieder, während Münsterschwarzach „Liebe“ als Übersetzung wählt.
[4] Der hebräische Text hat anstelle des interpretierenden „Taten deiner Huld“ den schlichten Plural „deine Hulden“.