Eine Exerzitienwoche
Die Erde ist Gottes so voll. Den Brunnenpunkt entdecken
Alfred Delp ist in diesen Tagen unser Begleiter. Er schreibt: „Aus allen Poren der Dinge quillt Gott uns gleichsam entgegen. Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und in den bösen Stunden hängen und erleben sie nicht bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen.“
Quellen und Brunnen sind die Traumorte des Menschen. In Märchen und Mythen führen sie in Tiefen hinab, aus denen neues Leben aufsteht. Zwar steht in der Mitte des Paradiesgartens, wie ihn die Bibel schildert, der Baum des Lebens, aber mindestens ebenso bedeutsam ist es, dass von ihm aus vier Ströme in die Welt ausgehen (Gen 2,10-14). In der Schau des Tempels beim Propheten Ezechiel entspringt in ihm eine Quelle, die zum großen Strom wird (Ez 47).
An den Brunnen lässt die Heilige Schrift die Väter Israels ihre Frauen finden, - Abrahams Knecht Rebekka als Frau für Isaak (Gen 24), - Jakob seine Frau Rahel (Gen 29), - Moses die Tochter des Priesters von Midian (Ex 15). Und die Tradition will, dass am Brunnen von Nazareth die Verkündigung des Engels Gabriel an Maria geschah. Die Brunnen sind Israel unverzichtbare Gottesorte für seine Zukunft. Indem die Väter dort ihre Frauen suchen und finden, sind die Brunnen die Orte für den Ursprung und die Erneuerung der Messiaserwartung.
„Dass in allem Gott verherrlicht werde“ (1 Petr 4,11), ist ein Auftrag, den der Apostel Petrus uns nahe legt. In allem Gott ent-decken ist die weite Perspektive für die Tage dieser Woche. Wir suchen die Brunnenperspektive des Tagesalltags. Lassen wir also die Augen schweifen.
Erster Tag: Die Augen öffnen
Kaum sind wir morgens wach, strömt eine Unzahl von Eindrücken auf uns zu. Es ist so viel, dass wir schnell überfordert sind. Wir sind in Versuchung, die Augen vor diesem, - vor jenem, - vor allem Möglichen zu verschließen. Nur was mit hohem Reizwert auf uns zukommt, lassen wir an uns heran. Das Leise geht an uns nur zu oft vorbei. Beten wir dagegen an, etwa mit dem Wort „Herr, öffne meine Augen für das Wunderbare dieses Tages“ (vgl. Ps 119,18)
Zweiter Tag: Die Dinge anschauen
Als ein Zeichen unserer Zeit wird oft die Schnelllebigkeit genannt. Für wenig oder gar nichts ist wirklich Zeit da. Es ist immer schon das Nächste dran. Buchstäblich gönnen wir dem Einzelnen nur einen kurzen Augenblick. Wie würde es unsere Weltsicht verändern, wenn wir ihm einen langen Augenblick gönnen oder gar einen zweiten Blick schenken würden. Nur wenn ich den anderen wirklich ansehe, gewinne ich eine Ansicht von ihm, - und er gewinnt Ansehen bei mir. Wer wirklich hinschaut, gewinnt … immer!
Dritter Tag: Einblicke wagen
Jeder Mensch, jedes Ding und jedes Erlebnis hat eine Fassade. Beim einen ist sie attraktiv, beim anderen abweisend. Wir wissen sehr genau, dass das die Oberfläche ist, aber allzu oft geben wir uns damit zufrieden. Schönheit aber wächst von innen heraus. Wir können sie wecken, … indem wir Liebe schenken. Wer liebt, der entfesselt. Er befreit von Angst und Enge. Die Liebe verwandelt das hässliche Entlein zum schönen Schwan, das Mauerblümchen zur Rose. Liebe macht schön. Heute ist ein guter Tag zu lieben.
Vierter Tag: Den Durchblick erkämpfen
Selten läuft alles glatt. Nur die wenigsten Wege sind hindernisfrei und ohne Stolperabschnitte. Ich möchte aufgeben und sage: „Es geht nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Es reicht.“ Dabei weiß ich genau, da vorne ist noch etwas. Jakobs Kampf mit dem Engel an der Furt des Jabbok ist mir da eine Hilfe (Gen 32,23-32). Jakob keucht: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ Und Jakob gewinnt den Segen. Die Sonne geht auf und er deutet seinen nächtlichen Kampf: „Ich habe den Herrn von Angesicht zu Angesicht gesehen.“ Halte aus! Bleib dran!
Fünfter Tag: Staunende Rückblicke
Oft sehe ich einen großen Berg vor mir und es will mir unmöglich erscheinen, ihn zu bezwingen. Das kann eine bestimmte Begegnung sein, eine besondere Aufgabe oder auch „überhaupt und so“. Wenn die Dinge dann hinter mir liegen, dann muss ich mehr als einmal sagen: „So schlimm, wie es vorher aussah, war es gar nicht.“ Ja, nicht selten kann ich sogar deutlich sehen, dass aus den Schwierigkeiten sogar Gutes erwachsen ist. Der Sänger von Psalm 136 ist die Geschichte des Volkes Israels nachgegangen und staunt in jedem Vers: „denn seine Güte währet ewiglich!“ Und ein anderer Psalm singt „Vergiss nicht das Gute, das er dir getan“ (Ps 103,2). Beides sind gute Begleitworte durch den Tag.
Sechster Tag: Den Überblick gewinnen
In Israel hatte ich in meiner Reisegruppe eine Diskussion, dass man doch nicht beten könne: „Ich schaue auf meine Feinde herab“ (z.B. Ps 92,12; 118,7). Das tut man doch nicht – und schon gar nicht als Christ. Wenige Tage später standen wir auf der Bergfeste von Masada und schauten auf die tief unten liegenden Überreste der alten Römerlager aus der Belagerung der Jahre 70-73 n.Chr. Wer hier oben stand, konnte in einem Gefühl der Sicherheit und Stärke buchstäblich auf die Feinde herabsehen. In den Gedanken dieser Woche sind wir mit dem Schritt guter Blicke den Berg Gottes emporgestiegen. Er ist ein Gott der Berge und Höhen. Wer in ihm lebt, der kann auf das Gewusel der Alltagswelt herabschauen. Er hat einen Standpunkt und einen Überblick. Gott ist mit mir.
Siebter Tag: Ein Ausblick
Den Sonntag feiern wir mit dem Lied des neuen Jerusalem (vgl. Offb 21,10-11.18-26):
Die Brunnen, wie sie überfließen / in den Straßen aus Gold. / Durst und Staub der langen Reise, / wer denkt daran zurück? / Noch klarer als die Sonnenstrahlen ist Gottes Angesicht. / Seine Hütte bei den Menschen / mitten unter uns. / In deinen Toren werd ich stehen, / du freie Stadt Jerusalem. / In deinen Toren kann ich atmen, / erwacht mein Lied.
Abt Albert Altenähr OSB
2006-03-07
Für KirchenZeitung Aachen, Exerzitien im Alltag 2006, 3. Woche Fastenzeit.