Predigt am Ersten Fastensonntag 2019
Empfänger unbekannt – Retour à l’expéditeur
Hans Magnus Enzensberger (*1929)
Vielen Dank für die Wolken.
Vielen Dank für das wohltemperierte Klavier
und, warum nicht, für die warmen Winterstiefel.
Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn
und für allerhand andre verborgne Organe,
für die Luft, und natürlich für den Bordeaux.
Herzlichen Dank dafür, daß mir das Feuerzeug nicht ausgeht,
und die Begierde, und das Bedauern, das inständige Bedauern.
Vielen Dank für die vier Jahreszeiten,
für die Zahl e und für das Koffein,
und natürlich für die Erdbeeren auf dem Teller,
gemalt von Chardin, sowie für den Schlaf,
für den Schlaf ganz besonders,
und, damit ich es nicht vergesse,
für den Anfang und das Ende
und die paar Minuten dazwischen
inständigen Dank,
meinetwegen für die Wühlmäuse draußen im Garten auch.
Das ist ein Text des deutschen Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger, der in diesem Jahr 90 Jahre alt wird. Aber dazu haben Sie jetzt wahrscheinlich zwei Fragen:
Erstens: Muss ich wirklich auch für die Wühlmäuse dankbar sein? Und zweitens: Was soll dieser Text am ersten Fastensonntag, wo wir viel lieber etwas über Fasten und Verzicht, Buße, Bekehrung und Umkehr hören würden?
Der Text kommt heute in diese Predigt, weil wir in der ersten Lesung ein Erntedankfest gefeiert haben mit einer Dankliturgie und einem Glaubensbekenntnis. Der Titel des Textes von Enzensberger lautet „Empfänger unbekannt – Retour à l’expéditeur“ (zurück an Absender) – der Text der ersten Lesung kennt seinen Empfänger hingegen sehr wohl.
Empfänger bekannt
Der Dank im Buch Deuteronomium richtet sich an Gott, einerseits an Gott, den Schöpfer, der den Boden erschaffen hat, auf dem die Früchte wachsen, andererseits an Gott, den Retter Israels aus der ägyptischen Sklaverei, der den Boden, das Land, auf dem das Volk nun lebt, geschenkt hat. Gott ist der Gott der Schöpfung und der Rettung, der Natur und der Geschichte.
Die Erinnerung an all das wird zum Glaubensbekenntnis, das Glaubensbekenntnis wird zum Dank, und der Dank wird zur fröhlichen Feier.
Das Buch Deuteronomium schärft immer wieder aufs Neue diese Erinnerung ein. Denn die Erinnerung an die eigene Geschichte prägt auch die Wahrnehmung der Gegenwart. Die Geschichte Israels erzählt, dass Gott an der Seite der Opfer steht und dass Strukturen des Bösen, der Sklaverei, der Unterdrückung keinen Bestand haben werden. Gott sei Dank! Und die Erinnerung der eigenen Geschichte ist Verpflichtung, den Fremden im eigenen Land das Unheil von Unterdrückung und Marginalisierung zu ersparen – denen, die jetzt so heimatlos sind, wie die eigenen Vorfahren es waren. Gott sei Dank! Ein dankbares Herz ist eine Voraussetzung dafür, als Gemeinschaft von Menschen in Frieden zusammenzuleben. Glaubende Menschen kennen den Empfänger für ihren Dank. Ob der selber wohl immer so dankbar dafür ist?
Grâce à Dieu?
Gott sei Dank – auf Französisch Grâce à Dieu – diese drei Worte haben den Weg in den Titel eines Films gefunden, uraufgeführt und ausgezeichnet auf der Berlinale vor ein paar Wochen. Grâce à Dieu, das sagte ein französischer Kardinal 2016 auf einer Pressekonferenz über Missbrauchsfälle in seiner Diözese. Grâce à Dieu – Gott sei Dank, so sagte er, sind diese Vorfälle bereits verjährt…. Entlarvend! Gott sei Dank – nicht, weil man die ersten Hinweise auf die Taten ernst genommen hätte, nicht, weil man den Täter aus dem Verkehr gezogen hätte, nicht, weil man den Opfern Gehör und Glauben geschenkt hätte – nein, Gott sei Dank, weil die Taten verjährt sind, weil die Kirche um die Auseinandersetzung wieder einmal herumkommt, weil man von der Justiz nichts zu befürchten hat. Dass zumindest das nicht so ist, hat ein Urteil in Lyon in der vergangenen Woche immerhin gezeigt.
Wir können dankbar sein für die Wühlmäuse im Garten. Als Kind waren das für mich Kreaturen, die Gartenbesitzer lieber tot als lebendig sahen, die ich aber genau so niedlich fand wie andere Mäuse auch. Aber wir müssen dankbar sein für die Wühlmäuse in der Kirche, die an den Wurzeln des Bösen nagen und die so manche schöne Pflanze absterben lassen, unter deren schönem Aussehen sich einiges Gift ausbreiten konnte.
Gottes missbrauchte Dienerinnen
Liebe Schwestern und Brüder, ich kann Ihnen heute nicht einfach etwas Frommes über die Fastenzeit erzählen, nachdem ich am Dienstag auf arte die Doku „Gottes missbrauchte Dienerinnen“ gesehen habe und weiß, dass es auch jetzt in diesem Augenblick Ordensfrauen in unserer Kirche gibt, denen es in ihren Gemeinschaften so schlimm ergeht wie Frauen, die Menschenhändlern in die Hände fallen (und deren Leiden dabei sogar noch geistlich verbrämt werden).
Wir stehen in diesen Zeiten an einem Scheidepunkt. Schlimm, dass er durch das Leid von missbrauchten Menschen herbeigeführt worden ist. Aber es ist zu hoffen, dass er nicht nur den ans Licht gekommen Zuständen ein Ende macht, sondern auch den Strukturen, den Gottes- und Kirchenbildern, die diese Zustände erst herbeigeführt haben. Dass über kurz oder lang all das in der Kirche in sich zusammenfallen wird, was allein auf blanker Macht und Machtspielchen und auf Männermacht beruht, was auf Egozentrismus und Klerikalismus beruht, was auf vermeintlichen Vorrechten und daraus resultierenden Überheblichkeiten und Eitelkeiten beruht, was auf Selbstzweck und schönem äußeren Schein beruht, in dem man letztlich nicht Gott glänzen lassen will, sondern nur sich selber.
Sie sind die Kirche!
Liebe Schwestern und Brüder, wer ist denn die Kirche? Sie sind das. Aus Ihren Reihen haben die Täter sich die ausgesucht, die sie missbraucht haben. Und Sie müssen sich nun als Glaubende in diesem Sumpf von medial aufbereiteten Hiobsbotschaften zurechtfinden, Sie müssen Ihren Glauben nun heil durch diese notwendige Zeit der Aufklärung und Aufarbeitung bringen und dabei versuchen, Ihre Treue zu Ihrer Taufe und Ihr Vertrauen auf Gott zu bewahren – und auch Ihre Treue zur Kirche, zumindest zu einer Kirche, wie sie sein sollte.
Sie haben wahrlich genug an Buße für das Katholischsein zu tragen in dieser Zeit, was vermutlich schwerer wiegt als ein Aschenkreuz. Wenn ich es dürfte, würde ich Sie am liebsten in diesem Jahr von allem Fasten und Büßen in der Fastenzeit dispensieren. Es gibt genug Kirchenvertreter, die es nötiger hätten und die Gott und das ganze Kirchenvolk um Verzeihung bitten müssten – und von denen etliche am liebsten einfach Fallen gegen die Wühlmäuse aufstellen würden und das zumindest verbal auch immer wieder tun.
Fragen Sie!
Was auch immer Sie tun in dieser Fastenzeit und darüber hinaus: Fragen Sie. Fragen Sie so viel, bis Sie Ihren Glauben verstanden haben und ihn gereinigt haben von den Überresten schädlicher Gottes- und Kirchenbilder, die wir alle noch in uns tragen und für die der Glaube immer anfällig sein wird. Fragen Sie, was das Geheimnis Gottes ist und was es für Ihr Leben bedeutet. Fragen Sie die Kirche, ob es ihr um genau dieses Geheimnis Gottes geht oder darum, dass niemand hinter ihre eigenen dunklen Geheimnisse kommt. Fragen Sie, warum selbst der Papst im Missbrauchsskandal eine gottgewollte Reinigung der Kirche sieht, als wäre es nicht ohne solche „göttliche Pädagogik“ (Theresia Kamp) schon schlimm genug. Fragen Sie, warum eine gegenseitig anerkannte Taufe nicht ausreicht für eine weitergehende Sakramentengemeinschaft. Fragen Sie, warum die Kirche jahrhundertelang verkündet hat, ungetauft verstorbene Kinder kämen nicht in den Himmel, und kein Wort der Reue darüber verlauten ließ, als diese angebliche Glaubenswahrheit sang und klanglos beerdigt wurde. Fragen Sie, warum Tradition und Lehren aus völlig anderen Zeit- und Erkenntniszusammenhängen für Sie heute eine Bedeutung haben sollen. Fragen Sie, warum kirchliche Verlautbarungen immer noch mit biblischen Versatzstücken arbeiten, die nach exegetischem Befund keine Antwort geben können auf spezielle Fragen der heutigen Zeit. Fragen Sie, warum die Kirche jahrhundertelang in die Schlafzimmer mündiger Christen hineinregiert hat und es zum Teil immer noch tut. Fragen Sie, warum es einen Zölibat geben muss. Fragen Sie, warum das Geschlecht darüber entscheidet, ob ein Mensch Priester werden kann oder nicht. Fragen Sie, warum so ein Eiertanz aufgeführt wird rund um alles zum Thema der sexuellen Orientierung.
Fragen Sie, was von alledem wirklich dazu dient, das Geheimnis eines Gottes, der die Liebe ist, in dieser Welt zum Klingen zu bringen und diese Welt heiler zu machen. Fragen Sie so lange, bis das Geheimnis Gottes sich von Ihnen persönlich packen lässt, wenigstens am Rockzipfel, und Ihr Leben hell macht und Sie auch verstehen, warum es eine Kirche sogar geben muss, damit das Geheimnis Gottes in dieser Welt einen Klangraum bekommt.
Liebevolle Antworten
Es gibt eine lange Liste von Antworten über das Dasein und das Leben der Kirche, die liebevoll ausfallen. Die jenseits von den aktuellen Krisen und Streitfragen von der Geschichte Gottes mit den Menschen in der Gemeinschaft und durch die Gemeinschaft der Kirche erzählen. Sie alle werden solche Antworten selber geben können, sonst wären wir alle heute nicht hier. In vielen Fällen in ihrer Geschichte stand und steht die Kirche auf und an der Seite von Opfern ganz verschiedener Zusammenhänge, in Treue zu der Erinnerung an und in Treue zum Dank für die Rettung Israels, die eben auch in ihrer DNA steckt.
Meine Hoffnung ist, dass die Wühlmäuse all das abfressen, was diese liebevollen Antworten verdeckt oder gar erstickt und was der Kirche es im aktuellen Geschehen so schwer macht, sich bedingungslos an die Seite der eigenen Opfer zu stellen. Und dafür endlich, für so eine Kirche, die dankbar ist für ihre Wühlmäuse, können auch wir dann danken, in ihr können wir die Früchte unseres Lebens und Glaubens teilen, auch mit den Fremden und denen, mit denen wir uns schwer tun, und in so einer Kirche können wir Gott unser Glaubensbekenntnis schenken.
Das Ziel der Fastenzeit ist nicht die bessere Figur, nicht der Spaß an der Trübsal, kein ausgemergeltes Büßergesicht und nicht das Abarbeiten von Kirchengeboten. Das Ziel der Fastenzeit ist Ostern. Und mehr noch: ein dankbares Herz für die Auferstehung Jesu und ein hoffnungsvolles Herz für unsere eigene Auferstehung.
Fragen Sie. Es wird erst reichen, wenn Sie sogar danken können für die Wühlmäuse in Ihrem Garten.
Amen.
P. Christian OSB
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Vor dem Schlusssegen der Messe trat P. Albert überraschend ans Mikrophon:
„Ich danke P. Christian ausdrücklich für seine Predigt. Ich hätte sie nicht halten können. Ich konnte nicht applaudieren und musste erst einmal tief durchatmen. Vom Alter her gehöre ich noch zu der Generation, die in großer klerikaler und mönchischer Selbstgewissheit kirchlich sozialisiert worden ist. Das reiht mich selbst in die Gruppe derer ein, die aus dieser Sozialisation heraus Schuldige wurden. Ein leuchtendes Bild der Kirche, die schützende Fürsorge für die Täter und ihre hoffentliche Resozialierung waren auch mir wichtig. Die Opfer und deren Traumatisierungen hatte ich selten und wenig im Blick. Solches Denken sitzt tief. Aus diesem Denkgeflecht wirklich auszusteigen, ist schwerer, als ich gedacht habe. Das Wissen um die eigene Schuldverflochtenheit macht es mir heute nicht mehr leicht, einfach und unbefangen das Zeugnis des Glaubens zu geben und als Prediger vor Ihnen zu stehen. - Herr, erbarme dich.“
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