Exerzitien im Alltag: Jeden Morgen neu auf das Fundament Gott stellen
Vom Segen des Anfangs
Die Aachener Kirchenzeitung veröffentlicht auch in der Fastenzeit 2011 für die jeweilige Woche Tagesimpulse. Die nachfolgenden Gedanken erscheinen in der Ausgabe der Kirchenzeitung für die zweite Fastenwoche. Das übergreifende Thema der Wochen lautet „Christus – Grund genug“. Die Grafik zum Thema erstellte Karin Börtz.
1. Tag: Sich ent-decken
Wenn morgens der Wecker läutet, dann beginnt durchwegs unbewusst ein eingespieltes Programm, ein Ritual. Aus dem Kokon der Nacht und des Schlafes ent-puppt sich langsam der Tages-Albert – oder wie auch immer ich heiße. Ich räkele mich und ent-decke mich. Ich schaue in den Spiegel und ermutige mein noch schlaftrunkenes Gesicht mit dem Gedanken: Ent-falte dich.
Dreimal habe ich in diesen kurzen Eingangssätzen Verben mit der Vorsilbe „ent-„ gebraucht. Ich will ein viertes Mal diese Voraussilbe ins Bewusstsein stellen: Ich bin in dieser Morgenstunde gerufen, die Nacht und den Schlaf aus mir zu ent-fernen. Mit jedem kleinen Schritt des Morgenrituals rücke ich Nacht und Schlaf in größere Ferne. Ich entferne mich von ihnen. Sie rücken ferner und ferner.
Der Anbruch des Tages ruft mich, mich aufzubrechen für den Tag und damit zugleich aufzubrechen hinein in den Tag.
Es ist eine erste, die erste und grundlegende Ent-scheidung. Ich will kein Mensch der Nacht, der Finsternis oder auch nur der Grauzonen sein, sondern ein Mensch des Tages und des Lichts. Ich sehne mich nach der Sonne und ihren Strahlen. Ich sehne mich nach Menschen und Tagesmomenten, die Licht in den Tag bringen.
Ich will das Meine tun, Licht in diesen Tag einzubringen, damit es hell wird in meiner Umgebung.
2. Tag: Öffnen
Wenn wir Mönche morgens um 5:30 Uhr unser erstes gemeinsames Gebet beginnen, stimmt der Vorsänger als erstes dreimal den Vers an: „Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund dein Lob verkünde“ (Ps 51). Es ist das erste Wort des gemeinsamen Tages. Es ist eine Überschrift und ein Programm: „Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund dein Lob verkünde.“
Mit dem ersten Wort unseres Betens stellen wir den Tag auf ein Fundament. Wir stellen ihn gewissermaßen auf die Füße. Wir machen nicht viele Worte, sondern sagen selbst in den wenigen Worten des Eingangsverses kernzentriert vor allem das eine Wort: Herr! In unserem Gebetsrhythmus ist das Wort buchstäblich leicht dahingesagt. Ich will es auch nicht bleiern schwer aufladen. Aber es wird mir doch immer wieder bewusst: ich beginne mit den Tag mit einer Hinwendung zu einem Gegenüber, mit der Begegnung mit dem Herrn. Es ist der Jahwe-Gott der Psalmen, den ich anrede. Für mich als Christen ist es in meinem Beten darüber hinaus vor allem Jesus Christus, dem ich mich zuwende.
Ich bitte darum, dass er mich öffne. Ich bekenne in dieser Bitte, dass ich bei allem eigenen guten Willen eine Kraft von außen brauche, dass ich hell-wach und offen werde. Offenheit ist etwas so Großes, dass es weit über meinen Menschenhorizont hinausgeht. Mein Gebet „Herr, öffne …“ ist ein sehnsüchtiges Verlangen, hineingenommen zu werden in die Offenheit Jesu für den Vater und mit ihm in das Licht des Tages, der kein Ende nimmt und reiner Lobpreis Gottes ist.
3. Tag: Lauschen
Im Prophetenbuch des Jesaja (Jes 50) lese ich: „Jeden Morgen weckt er mein Ohr, damit ich auf ihn höre wie ein Jünger.“ Das ist aus einem der Gottesknechtslieder genommen, die traditionsgemäß auf Jesus Christus hin gedeutet werden. In dieser Deutung ist Jesus der „Anführer“ all derer, die sich in seine Jüngerschaft hineingerufen glauben.
Der heilige Benedikt beginnt seine Regel mit genau dieser Programm-Ansage: „Höre, mein Sohn … neige das Ohr deines Herzens …“ Die Regel endet nach 73 Kapiteln – gleichsam 73 Schritten – dann mit dem Verheißungswort: „… du wirst ankommen.“ Ich lese und höre hier einen Spannungsbogen, der in jedem Schritt zugleich den Anfangsauftrag „höre!“ und die Sehnsuchtverheißung „ankommen“ aufklingen lässt.
Bei der jüdischen Dichterin Nelly Sachs lese ich ein Gedicht, das sie unter einen Jesaja-Vers stellt: „Noch ehe es wächst, lasse ich euch es lauschen“ (Jes 42,9). Das Schöpfungsgeschenk Gottes ist für die Dichterin das äußerst feine Gehör. Unsere Sprache kennt solche Hörsensibilität leider eher negativ, wenn sie davon spricht, dass manche „das Gras wachsen hören.“ Sind wir vielleicht grobschlächtige Hörer geworden? Nelly Sachs ist dieser Meinung und klagt:
Lange haben wir das Lauschen verlernt!
Hatte Er uns gepflanzt einst zu lauschen,
wie Dünengras gepflanzt, am ewigen Meer,
wollten wir wachsen auf feisten Triften,
wie Salat im Hausgarten stehn.
Das Gedicht fragt mich, ob ich übersättigt mit diesem und jenem bin, ob ich in innerer Fettsucht wie ein feister Salatkopf im kleingestrickten Nutzgarten lebe und damit zufrieden bin. Das Gras auf der kargen Düne ist das Gegenbild zum Salatkopf. Das leichte Rauschen des Windes und der auflaufenden Wellen, das Wandern des Sandes im Wellenschlag des Ufers und über die Dünenkämme sprechen von anderen Dimensionen als den sauber geschnittenen Buxbändern der Gemüserabatten.
Lauschen auf die Sehnsucht, von der das weite Meer erzählt, das ist es, was den Alltag nicht im Kleinklein dahinsiechen und sterben lässt.
4. Tag: Schauen
In Psalm 119,18 heißt es: „Herr öffne meine Augen, damit ich die Wunder deiner Weisung schaue.“ Es sind auch hier die Sinne angesprochen, die den Weg in die Tiefe führen können und es doch zu selten tun.
In einer Blindenheilung des Markusevangeliums (Mark 8,24f) erlebt der Geheilte eine erste Phase seiner Heilung. „Ich sehe etwas, das wie Bäume aussieht und umhergeht.“ Als Jesus ihm noch einmal die Hände auflegt, „sah der Mann deutlich und konnte alles genau sehen.“ Diese Andeutung, dass Heilung …, dass ein neues Sehen …, eine neue Sicht der Dinge nicht unbedingt von jetzt auf gleich geschieht, ist ermutigend und zugleich herausfordernd. Ich hätte gern das Neue, das mein Leben zur Fülle bringt, jetzt und sofort. Ich tue mich schwer mit dem langen Weg der Geduld und den vielen kleinen und kleinsten Schritten. Aber genau diese Langsamkeit des Wachsens lässt etwas Solides und Starkes werden.
Der Vers aus Psalm 119 weist mich darauf hin, dass es mehr zu sehen gibt, als es vordergründig zu sehen gibt. Er lädt dazu ein, Positionen zu überdenken und Blickwinkel zu ändern, um nicht einäugig und einseitig die Dinge zu sehen. Er bittet buchstäblich um ein Ein-, ein Hinein-Sehen und damit um Ein-Sichtigkeit und Ein-Sicht. Er bittet darum, dass mir die Scheuklappen genommen werden, die mir nur den engen Blick erlauben und den weiten Blick verwehren.
Indem ich das so schreibe (… und Sie es jetzt lesen), frage ich mich, ob ich wirklich eine neue Sicht auf dieses, jenes, ein Drittes … und überhaupt will. Einsicht ist anstrengend, denn sie stellt die Frage, ob ich bereit bin, daraus Konsequenzen zu ziehen.
5. Tag: Schmecken
Wenn der Duft des Kaffee in die Nase steigt und das frische Brötchen zusammen mit dem ganzen Frühstückstisch lacht, dann muss man den Geschmack nicht mehr suchen, dann hat man ihn bereits gefunden. Das Auge und die schnuppernde Nase haben den Geschmack am und auf das Frühstück geweckt. … und wir lassen es uns einfach schmecken.
Das hört sich sehr einfach an und es ist es auch … und ist es auch wieder nicht. Guter Geschmack ist nicht jedermanns Sache. Und wenn ich hierfür einen guten Geschmack habe, dann heißt das noch lange nicht, dass ich ihn auch für etwas anderes habe. Es gilt Geschmack zu finden am Geschmack, um auf den Geschmack zu kommen.
Schmecken hat etwas mit Kosten zu tun und das wiederum weist uns darauf hin, dass wir den Wert und die Kostbarkeit von etwas entdecken wollen und müssen. Wir nehmen eine Probe, … probieren es, … lassen es auf der Zunge und im Gaumen zergehen, … gönnen ihm die geringe Menge und die gute Zeit einer Kostprobe.
Das genussvolle Frühstück kann durchaus eine Fragestunde für den Tag sein. Was schaufele ich mir selbst auf den Teller des Tages? Was schaufele ich – etwa als Vorgesetzter – den anderen auf den Teller ihres Arbeitstages? Das Zuviel und das Hastig-schnell vergällen die Freude und erschöpfen die Kraft. Sie liegen schwer im Magen.
6. Tag: Die Spur aufnehmen
In den Evangelien hören wir von den Aposteln, dass sie Jesu Ruf folgen, dass sie ihm nachfolgen. Er hatte sie neugierig gemacht. Sie wollten mehr erfahren. War ihnen klar und deutlich, was sie erwarten würde? Konnten sie sich sicher sein, dass er das zu bieten hatte, was sie sich nach ihrem Verständnis der Schrift letztendlich erhofften? Sie wagten den Glauben und machten sich auf den Weg, … Schritt für Schritt, … auf einen langen Weg.
Der Morgen ist eine Stunde des Aufbruchs. Wir verlassen das Haus und beginnen den Weg durch den Tag. In jeder Stunde, jeder Begegnung und Aufgabe sind wir unterwegs, uns zu verlassen und uns auf das Neue einzulassen. Wir verlassen uns … und gehen auf etwas außer uns zu. Verlassen wir uns … auf Gott (hin)?
In den einzelnen Wegabschnitten, … ja, in jedem Schritt ist eine Chance. Wenn – nach einem Wort von Martin Buber – der Augenblick das Gewand Gottes ist, dann heißt das, dass uns jederzeit die Chance Gott entgegentritt. Bin ich wach genug, die Chance zu ergreifen, … einen Gewandzipfel „Gott“?
Ich weiß, das ist alles faszinierend und so einfach gesagt. Und ich muss auch selbst gestehen, dass es beileibe nicht so einfach getan ist. Ich glaube aber fest, dass die Spuren Gottes überall zu entdecken sind. Den Tag will ich als Fährtenleser angehen und durchwandern.
7. Tag: Feiern
An jedem Abend der Schöpfungstage schaute Gott zurück und sah, dass es gut war. Am siebten Tag machte er sich selbst das große Geschenk des Sabbats. Es ist das Geschenk des Feiertages, der Ruhe, des großen Rückblick: es war sehr gut.
Wir schauen auf eine Woche zurück. Jeder Tag ein neuer Anfang und jeder Tag beginnt selbst mit einem Anfang. Konnten wir mit diesen Anfängen ein wenig von Gott und seiner Gegenwart in jedem Tag einfangen? Wie schnell ging von den guten Vorsätzen dieses und jenes verloren? Hat der Alltag die vorsichtigen Ansätze ganz schnell wieder zertrampelt?
Eine Geschichte erzählt von dem europäischen Forscher, der die Träger seiner Expedition durch den Dschungel treibt. … bis sie schließlich ihre Lasten niederlegen und streiken. „Wir müssen darauf warten, dass unsere Seelen uns einholen!“ Die Weisheit der Träger sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen: „…warten, dass unsere Seelen uns einholen!“
Wie wäre es, wenn wir diese Weisheit gewissermaßen als Streikposten in unsere Tage mit hineinnehmen, … in den Druck, den wir anderen machen und dem wir uns selbst unterwerfen, … in unser Arbeiten, … in unsere Zeitvertreibe, … in unsere Morgen und Abende? Ich glaube, das Feuer der Lebensfreude würde brennen und dem Burn-out wäre ein Riegel gesetzt. Wir brauchen Feiertage, -stunden und immer wieder Feierminuten.
Nach dem morgendlichen
Gang über die
Psalmbrückedrehe ich mich nicht
mehr um die eigene
Achse.Ich atme die alten
Heilworte in meine
Tagängsteund bin
guter Hoffnung.(Wilhelm Bruners)
P. Albert Altenähr OSB
2011-03-04