Zum Dreifaltigkeitssonntag (Deuteronomium 4,32-34.39-40)
Nimm dir zu Herzen ...
Deuteronomium 4: 32 Forsche doch einmal in früheren Zeiten nach, die vor dir gewesen sind, seit dem Tag, als Gott den Menschen auf der Erde schuf; forsche nach vom einen Ende des Himmels bis zum andern Ende: Hat sich je etwas so Großes ereignet wie dieses, und hat man je solche Worte gehört? 33 Hat je ein Volk einen Gott mitten aus dem Feuer im Donner sprechen hören, wie du ihn gehört hast, und ist am Leben geblieben? 34 Oder hat je ein Gott es ebenso versucht, zu einer Nation zu kommen und sie mitten aus einer anderen herauszuholen unter Prüfungen, unter Zeichen, Wundern und Krieg, mit starker Hand und hoch erhobenem Arm und unter großen Schrecken, wie es der Herr, euer Gott, in Ägypten mit euch getan hat, vor deinen Augen? 39 Heute sollst du erkennen und dir zu Herzen nehmen: Jahwe ist der Gott im Himmel droben und auf der Erde unten, keiner sonst. 40 Daher sollst du auf seine Gesetze und seine Gebote, auf die ich dich heute verpflichte, achten, damit es dir und später deinen Nachkommen gut geht und du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt für alle Zeit.
Aus meiner theologischen Studienzeit habe ich die Vorlesung über die Dreifaltigkeit als absolute Kür des Denkens in Erinnerung. Der Kopf rauchte. Er wollte und konnte nicht verstehen, was die großen Theologen der Vergangenheit sich zusammen-gedacht und was sie aus dem Geheimnis Gottes aus-gedacht hatten. Und wo immer ich ihre Gedanken nachvollziehen, - oder ehrlicher gesagt: nachstolpern konnte, fühlte ich mich selbst als Spitzensportler des Denkens. So sehr ich auch heute noch die hohe Schule des theologischen Denkens schätze und mich hier und da in ihr übe, so sehr ist mir bewusst geworden, dass Gott keine Denksport-Aufgabe ist.
Nachdenken über Gott ist für mich mehr und mehr ein Nach-Denken meines eigenen Lebens geworden. Der Abt meines klösterlichen Anfangs mahnte uns junge Kloster-Heißsporne immer wieder zur „Tugend der Langsamkeit“, zum „Schritt für Schritt“, zum „Eins nach dem anderen“. Eine seiner Lieblingsformulierungen in diesem Zusammenhang war die von den „Nach-Gedanken“, auf die man nicht verzichten sollte. Er lehrte uns, die Vergangenheit nicht nur nicht ad acta zu legen, sondern sie als Ackerboden der Gegenwart nach-zudenken, - in ihr die Gottesbegegnungen zu ent-decken und sie so in die Zukunft mitzunehmen. Für uns Junge war das nicht gerade anfeuernd, aber die unaufgeregt wieder- und wiederholte Botschaft bändigte die Hitzigkeit des schnellen Vorwärtsdranges. Und in der Rück-Schau muss ich bekennen, mein Abt war ungemein voraus-schauend. Rück-Sicht ist die Grundlage der Vor-Sicht.
Aus dem alttestamentlichen Buch Deuteronomium, aus dem unsere Lesung genommen ist, sind mir vor langen Jahren die folgenden Worte aufgefallen: „Nimm dich in acht, achte gut auf dich! Vergiss nicht die Ereignisse, die du mit eigenen Augen gesehen, und die Worte, die du gehört hast. Lass sie dein ganzes Leben lang nicht aus dem Sinn! Präge sie deinen Kindern und Kindeskindern ein! Vergiss nicht den Tag, als du am Horeb vor dem Herrn, deinem Gott, standest“ (Dtn 4,9-10). In den Psalmen begegnen mir Verse wie dieser: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“ (Ps 103,2). Und mahnt uns Jesus nicht ganz zentral in dieselbe Richtung, wenn er beim Abendmahl den Auftrag gibt: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“? Die jüdisch-christliche Religion ist zutiefst eine Religion des Nicht-Vergessens, - oder um es positiv zu sagen: eine Religion der Erinnerungen und des Gedächtnisses. Sie ist eine Religion der Erzählungen von Gottesbegegnungen in Freude und Leid, Glück und Unglück, Gewissheit und Zweifel.
Am Ende unseres Lesungsabschnittes heißt es dann: „... und nimm dir zu Herzen“. Vielleicht liegt hier der Knackpunkt unseres modernen Lebenskonzepts: dass wir uns scheuen, uns tief auf etwas einzulassen, - uns etwas zu Herzen zu nehmen. Ich erlebe es bei mir selbst, dass ich das Eine oder Andere um Himmels willen nicht zu nah an mich herankommen lassen will. Denn wenn ich es wirklich an mich heran- und mich darauf einließe, dann müsste ich mich mehr bewegen, als mir lieb ist. Es ist „gefährlich“, sich etwas zu Herzen gehen zu lassen, denn das hat Konsequenzen für mein Leben. Wo ich mit dem Herzen dabei bin, da bin ich herausgefordert – heraus-gefordert aus dem behaglichen Schneckenhaus – und verletzlich. Auf der anderen Seite gilt aber wohl genauso: Wo ich mit dem Herzen dabei bin, da bin ich erst wirklich lebendig.
Die Dichterin Nelly Sachs fragt am Ende eines ihrer Gedichte: „Wenn die Propheten aufständen / in der Nacht der Menschheit / wie Liebende, die das Herz des Geliebten suchen, / Nacht der Menschheit / würdest du ein Herz zu vergeben haben?“ Vielleicht müssen auch wir „guten Katholiken“ uns fragen: pflegen wir Gott wirklich in unseren Herzen?
Albert Altenähr OSB
2003-05-26