Das große Wandgemälde in der Bergkirche
St. Stephanus in Kornelimünster
Die Reichsabtei Kornelimünster wurde 1802 aufgelöst. Ihre Kirche, bis diesem Zeitpunkt Kloster- und Pilgerkirche, konnte unmit telbar von der Pfarrgemeinde Kornelimünster übernommen werden. Die bis-dato-Pfarrkirche St. Stephanus, die „Leutekirche“ des Münsterländchens oberhalb der Klosteranlage, blieb zwar erhalten, war aber nur noch Friedhofskirche, Kirche auf dem sie umgebenden alten Friedhof des Ortes1. Seit ihrer letzten Renovierung (1984-1990) wird die Kirche unregelmäßig für Beerdigungs- und besondere Gottesdienste, als Konzertraum und für Ausstellungen genutzt.
Das Westwerk der Bergkirche als Verkündigung
Die Rückwand der Kirche ist durch ein gewölbebogen-füllendes Wandgemälde aus der 2. Hälfte / dem Ende des 19. Jhd.2 geprägt. Was sagt mir diese Platzierung? Was ist das Thema des Bildes? Was erzählen mir die Details des Bildes?
Die Rückwand der Kirche …, das ist – nicht immer buchstäblich im Westen – das sog. Westwerk. Es ist in nicht wenigen mittelalterlichen Kirchen mit einem wandfüllendem Fresko / Mosaik des Jüngsten Gerichtes gefüllt3. Kunstsymbolisch steht das Westwerk einer Kirche für den Bereich, von dem aus die Dämonen in den Christusraum eindringen4; der Osten ist Christus zugeordnet. Das Jüngste Gericht ist ein durchaus passendes Bildthema für das Westwerk einer Kirche.
Ich erinnere mich an eine Kirchenführung in Torcello in der Lagune von Venedig und an sein phantastisches Jüngstes Gericht im Westwerk von S Maria Assunta (Mosaik, 12. Jhd.).
Der Führer wies darauf hin: Wenn Sie die Kirche betreten, haben Sie den Bereich der Dämonen buchstäblich hinter sich. Wenn Sie dann die Kirche wieder verlassen, haben Sie ihn genauso buchstäblich vor sich. Beim Verlassen des Gottesdienstes erhalten Sie in dem Mosaik noch einmal eine eindrückliche Gerichts-Predigt oder -Warnung „vor Augen gestellt“. Das Entlasswort „Gehet hin in Frieden“ wird akzentuiert mit der Mahnung: Bewahre diesen Frieden in der „bösen Welt“5.
Zweifellos kann man die Bildszene in der Stephanuskirche in den aufgezeigten Traditions-zusammenhang einordnen. Und doch ist das Kornelimünsteraner Bild keine Darstellung des Jüngsten Gerichtes, das die Angstkulisse Himmel oder Hölle vorstellt. Der Feuersee, der uns vielleicht Angst macht, ist nicht das ewige Höllenfeuer, sondern das läuternde Fegefeuer6. Die Hölle taucht auf unserem Bild nicht auf. Die endgültige Verwerfung wird nicht thematisiert. Sie wird ausgeblendet.
Ikonographisch ist diese Deutung dadurch grundgelegt, dass kein „Höllensturz“ dargestellt ist. Die Figuren scheinen zwar in unterschiedlichen Phasen der Reinigung / Läuterung zu sein – zwei haben noch die Hände vor‘s Gesicht geschlagen, eine wird bereits von einem Engel aus dem Feuer gezogen, aber insgesamt ist ihre Ausrichtung „nach oben hin“ gezeichnet. Ihre Augen und Arme richten sich auf den Gekreuzigten hin.
Angesichts der Tatsache, dass St. Stephanus praktisch zur Friedhofskirche geworden ist, in der vor allem Beerdigungsgottesdienste gefeiert werden, macht die Ausblendung der Hölle das Bild zu einem Trostbild für die Hinterbliebenen7. Es mahnt nicht mehr die Lebenden, sich vor dem Bösen in der Welt zu hüten, sondern spricht davon, dass unsere Verstorbenen jetzt im Bereich Gottes leben. Das Fegefeuer gehört zu diesem göttlichen Bereich. Mögen die Verstorbenen auch noch einen letzten Läuterungsprozess durchleben müssen, so ist doch das ewige Leben in Gott ihre sichere Perspektive. Die große Bildunterschrift „Herr, gib den Seelen der Abgestorbenen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen“ ist in Beerdigungsfeiern der liturgische Abschiedsgruß dieser Zuversicht.
Der österliche Karfreitag
Wenn ich Einzelheiten des Bildes in den Blick nehme, so fällt wohl als erstes das mittig im Bild stehende große Kreuz mit dem Gekreuzigten auf. Es ist die Wiederkunft Christi „auf den Wolken des Himmels“ (Mt 24,30 u.a.) dargestellt, also durchaus eine Szene der Endzeit / des Endgerichts.
Was mir besonders auffällt, dass die Wiederkunft Christi nicht als Verlängerung des Auferstehungs-, sondern des Karfreitagsgeschehens akzentuiert wird.
Der Jesus am Kreuz ist der Gestorbene des Karfreitags. Zwar hat er die souverän stehende Haltung romanischer Kruzifixe. Andererseits lässt er den Kopf hängen – nach vorne, nicht zur Seite geneigt - ..., hat die Augen geschlossen ..., Blut fließt aus seiner Seite. Auf dem Kopf trägt er die Dornenkrone. Aus seiner Seitenwunde schießt ein Blutstrom8. Der Christus ist neoromanisch / neugotisch geglättet / idealisiert, muskulös und sehr männlich stark, aber nichtsdestotrotz ist es ein Golgatha-Christus. Die Überlänge des Kreuzes und der Kreuz-Titulus „INRI“ unterstreichen die Karfreitagssituation.
Andererseits ist natürlich der österliche Christus präsent. Das Kreuz steht nicht mehr auf dem Golgatha-Hügel. Es ist vor dem Sonnenball der (göttlichen) Herrlichkeit präsentiert. Dieser sendet seine Strahlen auf die Szenerie des Fegefeuer-Sees herab. Die beiden griechischen Buchstaben des Alpha und des Omega – vertraut als Ewigkeits-Hinweise und von unseren Osterkerzen – greifen auch das Motiv der Wiederkunft Christi auf: Siehe, er kommt mit den Wolken, und jedes Auge wird ihn sehen, auch alle, die ihn durchbohrt haben ... Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Gott, der Herr, der ist und der war und der kommt, der Herrscher über die ganze Schöpfung (Offb 1,7-8).
Ein kleines Bild-Detail wird möglicherweise von vielen – wenn nicht sogar allen – Betrachtern übersehen: die unterschiedliche Handhaltung des Gekreuzigten. Die rechte Hand Jesu ist zwar – wie nicht anders zu erwarten – am Kreuzholz angenagelt, aber sie formt den Rede-, Segens-, bzw. Hoheitsgestus des lebenden Christus: Zeige- und Mittelfinger sind ausgestreckt, der Ring- und der kleine Finger sind in die Handfläche gebogen, der Daumen berührt / sucht den Ringfinger9.
Die Erlösungsliebe Christi und die Fürsprache der Heiligen -
Die Feier der Eucharistie und das Rosenkranz-Gebet
Das Blut, das aus der Seite Jesu hervorfließt, wird von einem Engel mit einem Kelch aufgefangen. Eine lange Bildtradition und ihre gängige eucharistische Deutung ließen die Betrachter der Entstehungszeit wohl sofort an die Messfeier denken.
Der Engel mit dem Kelch taucht in unserem Wandgemälde noch ein zweites Mal auf. Er schwebt über dem Fegefeuer und schüttet seinen Kelch über das Feuer aus. In dieser Darstellung erkenne ich die Botschaft an die Betrachter, dass die Messfeier das Feuer „löscht“ und den Verstorbenen die Zeit im Fegefeuer „verkürzt“. Ganz praktisch ist es wahrscheinlich auch ein Hinweis darauf, wie sinnvoll es ist, immer wieder Messen „für die Verstorbenen“ lesen zu lassen. Auch das Gebetsgedenken für die Verstorbenen im Hochgebet der Messe darf hier erwähnt werden.
Rechts neben dem Kreuz knien vier Heilige. Drei von ihnen sind leicht zu identifizeren: Maria, der Papst Kornelius (Papstkreuz, Tiara-Kroe, Horn) und Joseph (Lilie). Der vierte, ein Mönch in schwarzem Habit ist mit Sicherheit ein heiliger Benedikt. Ob es der Benedikt von Nursia, der Ordensgründer, oder der Klostergründer von Kornelimünster, Benedikt von Aniane ist, ist aus dem Bild heraus nicht zu bestimmen, da ihm kein Erkennungs-Attribut mitgegeben ist. Vielleicht wollten die Auftraggeber des Gemäldes die Identifizierung auch offen halten.
Maria gibt sich durch die lange tradierte Farbe Blau ihres Obergewandes zu erkennen10. Das blaue Gewand weist Maria der himmlischen Sphäre, dem Bereich Gottes zu. Joseph – wie in so vielen Bildern der Heilige „am Rande“ - trägt dagegen erdfarben „irdisches“ Braun. Dass er als relativ junger Mann dargestellt wird, macht ihn sympathisch11.
Alle vier richten ihre Augen auf den Gekreuzigten, Benedikt, Kornelius und Joseph eher verhalten, erschüttert, anbetend, Maria hingegen lebendig und gewissermaßen redend, bittend. Diesem unterschiedlich Blickausdruck entspricht auch die Haltung der Hände. Benedikt hat sie gefaltet vor der Brust, Joseph übereinander geschlagen ebenfalls vor der Brust. Kornelius ist damit beschäftigt, den Kreuzstab und das Horn zu halten.
Maria hat die rechte Hand an die Brust gelegt, der linke Arm dagegen wirkt wie in einer freien Bewegung eingefangen. Der Arm weist nach unten. … und weiter unten – in der Verlängerung des Armes – taucht Maria noch einmal auf: in dem großen marianischen Gebet, dem Rosenkranz12.
Maria wird dem Betrachter als die besonders wirkkräftige Fürsprecherin in der Stunde des Todes und für die Verstorbenen vorgestellt. Das Rosenkranz-Gebet wird als Gebet für eine gute Sterbestunde und für die Verstorbenen empfohlen. Es darf hier sicher auch den Brauch erinnert werden, einem Verstorbenen einen Rosenkranz in die Hände zu legen.
Wie der Kelch, der über dem Fegefeuer ausgeschüttet wird, wird der Rosenkranz über das Fegefeuer gehalten / in das Feuer hineingesenkt (?). Spiegelbildlich präsentiert, werden Eucharistie und Rosenkranz buchstäblich als „auf gleicher Höhe“ stehend vorgedacht. Dem Betrachter von damals (… und auch heute ...?) wird suggeriert, dass Messe und Rosenkranzgebet den gleichen Heilswert haben. Die sprichwörtliche Praxis, dass bis zur liturgischen Bewegung13 im Lauf des 20. Jhd. der Priester vorne am Altar „für sich“ die Messe las, während die Gottesdienstbesucher den Rosenkranz beteten, könnte mit dem hier formulierten Bild-Argument legitimiert werden. Auch die bis heute anhaltende Diskussion um die „Mittlerschaft“ Mariens in der Heilsgeschichte14 kann in unserem Wandgemälde wiedergefunden werden.
Die Bedeutung und Wirkung des Rosenkranzgebetes wird ausgesprochen „griffig“ ins Bewusstsein der Betrachter des Bildes eingezeichnet. Der Engel, der den Rosenkranz in der einen Hand hält, hat mit der anderen den Arm einer Frau gefasst und zieht sie aus dem Fegefeuer heraus. Sie hat den Prozess der Läuterung hinter sich und darf sich in die Schar der Vollendeten einreihen.
Offen bleibt mir in meinem Betrachten des Bildes in der Bergkirche die Bedeutung der Vierergruppe der Engel, die das Pendant zu den vier Heiligen rechts vom Kreuz ist. Ob diese vier Engel etwas Besonderes aussagen wollen / sollen, oder ob sie einfach „nur“ ein optisches Gegengewicht zu den vier Heiligen sind, kann ich (… zumindest heute …) nicht sagen.
Ich halte für mich fest:
Das Wandbild in St. Stephanus ist in seinem Grundzug ein Trostbild. Unsere Verstorbenen, die wir von hier aus auf ihrem letzten Weg begleiten, sind Erlöste in Jesus Christus. Das Läuterungsfeuer zeigt sie auf dem Weg in die Vollendung der Fülle des Lebens.
Das Bild schöpft seine Zuversicht aus dem Glauben an die Kraft und Größe der Karfreitagsliebe Jesu. So dominiert das Kreuz das ganze Gemälde. Das Blut aus der Seitenwunde des Gekreuzigten ist das sichtbare Zeugnis der erlösenden Liebe Gottes.
Der Verstorbene und die Hinterbliebenen sind nicht mit Tod und Trauer allein. Die Ortspatrone – stellvertretend für alle Heiligen – und besonders (Joseph und) Maria, die Mutter Jesu, stehen an ihrer Seite und treten für sie ein. In dieser Fürsprache bewährt sich die Communio der Kirche als Communio Sanctorum über die Zeitgrenze in die Ewigkeit hinaus.
Greifbar griffige Zeichen dieser Zusammenhänge sind im Heute die Feier der Eucharistie und das Gebet mit- und füreinander. Das Rosenkranzgebet wird als bewährte Überlieferung dabei besonders empfohlen.
Albert Altenähr
2019-10-05
1 Die Geschichte der Stephanuskirche ab 1802 genauer zu beleuchten, wäre sicher interessant. Als „Neubürger“ von Kornelimünster sind mir keine Informationen oder Erzählungen dazu bekannt.
2 Das ist mein – sicher nicht fundiert fachsicherer – Datierungsansatz. Überhaupt ist zu diesem Beitrag anzumerken, dass ich kein Kunsthistoriker bin und meine diesbezüglichen Bemerkungen als Aussagen eines Laien mit nachfragender Vorsicht zu lesen sind.
3 >> https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCngstes_Gericht?veaction=edit§ion=7#Christliche_Ikonographie
5 Michelangelos Jüngstes Gericht in der Sixtinischen Kapelle ist in seiner Positionierung an der Altarwand eine geradezu revolutionäre Umstellung / Umdeutung der Tradition. Diese Umstellung berechtigt zu der Frage, ob Michelangelo tatsächlich das Gericht an Sündern und Gerechten darstellen will oder nicht vielmehr die machtvolle Herrlichkeit des Richtenden preist. Der Richter, nicht das Gericht und die Gerichteten steht im Fokus der Botschaft Michelangelos.
6 Ausführungen über das Fegefeuer würden hier zu weit führen. Es ist eine sehr „katholiscche“ Leehre, die so von anderen Konfessionen nicht geteilt wird.
7 Es ist hier nicht die Frage, ob wir persönlich das so erleben. Ich versuche einfach, mich in die positive Aussage-Intention des Malers, bzw. seiner Auftraggeber hineinzudenken.
8 Dieser Blutstrom aus der Seitenwunde ist keine überzogene Dramatisierung seitens des Künstlers. Er hat eine breite ikonographische Tradition. >> https://de.wikipedia.org/wiki/Seitenwunde_Christi – In unserer Abteikirche zeigt die östliche Querhaus-Rosette in der Darstellung des apokalyptischen Lammes dasselbe Motiv.
9 Die genaue Bedeutung dieser Handhaltung für den Maler des 19. Jhd. wird wohl offen bleiben müssen. Für alte Darstellungen wird heute die Deutung als Hoheitszeichen bevorzugt (>> Lexikon der christlichen Ikonographie, Herder, Rom / Freiburg …, 1970, Bd. 2: Handgebärden). Als Hoheits-Aussage würde die Haltung der Hand sehr gut in das Konzept des österlichen Karfeitags-Cristus passen.
11 Nur als allgemeine Hintergundfolie für die Enstehungszeit des Bildes:
1870 (8. Dezember) erhob Pius IX. (1846-1878) Joseph zum Schutzpatron der Kirche. Am 20 September 1870 war Rom durch die Truppen Garibaldis erobert worden; am 20. Oktober wurde das 1. Vatikanische Konzil „sine die“ vertagt. -
1889 (15. August) widmete Leo XIII. (1878-1903) der Verehrung Josephs eine eigene Enzyklika (Quamquam pluries). In emphatisch dramatisierender Sprache beschwört sie die Not der Religion seiner Zeit: „Ihr kennt vollkommen die gegenwärtige Lage der Dinge, ehrwürdige Brüder. Sie ist in der Tat für die christliche Religion kaum weniger unheilvoll und elend, als sie es in den unheilvollsten und elendesten früheren Zeiten gewesen ist. Wir sehen, wie bei vielen Menschen die Grundlage aller christlichen Tugenden, der Glaube, verschwindet; wie die heilige Liebe erkaltet; wie eine durch schlechte Sitten und falsche Anschauungen verführte und verdorbene Jugend heranwächst. Wir sehen, wie die Kirche Jesu Christi von allen Seiten mit Gewalt und List bekämpft wird; wie gegen das Papsttum ein rücksichtsloser Krieg geführt wird und wie die Grundlagen der Religion selbst mit einer täglich anwachsenden Vermessenheit erschüttert und zu Fall gebracht werden.“ Man muss und wird diese Sicht nicht unbedingt teilen, aber als päpstliche Lehräußerung hatte sie damals prägendes Gewicht.
Es ist auffällig und sicher gewollt, dass die beiden Ereignisse an marianischen Hochfesten datiert sind. Am 8. Dezember 1854 hatte Pius IX. das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis Mariens verkündigt. -
In Aachen wurde die Kirche St. Josef 1893-1894 erbaut.
12 Papst Leo XIII. war ein besonderer Förderer des Rosenkranzgebetes. Er widmete ihm sieben seiner insgesamt 86 Enzykliken.
14 >> https://de.wikipedia.org/wiki/Maria,_Mittlerin_der_Gnaden