Gedanken zu einer Noviziatseinkleidung
Elija und Lazarus - Gestalten eines neuen Anfangs
Gott, wie er uns in den heiligen Schriften vor Augen tritt, ist ein Gott der Berge und Höhen, der Bergburgen und der Gebetsgipfel. Die Unterwelt und ihre Zugänge, die Gräber und Höhlen sind dem biblischen Menschen zutiefst un-heimelig und unheimlich. Aus den Grabgruben und den Nottiefen ruft der Beter hinauf zum Gott in der Höhe
… und er antwortet.
Zweimal erfahren wir in der Heiligen Schrift einen besonders markanten Anruf. Elija wird es in seiner Höhle am Fuß des Gottesberges Horeb zugerufen (1 Könige 19,11). Und im Neuen Testament ruft es Jesus voll Erschütterung in das Grab des Lazarus hinein: „Komm heraus!“ (Johannes 11,43)
Elija war auf seinem Gottesweg vor den nächtlichen Unbilden von Kälte, Finsternis und Angriffen in den Schoß von Mutter Erde geflüchtet, um embryonalen Schutz zu suchen. Er schottet sich von Tag und Leben ab. Er verkriecht sich und mauert sich ein. - Komm heraus, Elija!
Lazarus war in Todeskrankheit gefallen, und der, der ihn hätte am Leben halten können, Jesus der Heiland und Heilende, eilt nicht herbei, ihn zu retten. Er lässt ihn versinken im Tod. Die Grabesgrube umfängt ihn mit Grabesruhe. - Lazarus, komm heraus!
Ob nun der eine oder der andere Text, beide werden manchen Menschen eher für die Illustration des Klosters als eines lebensverneinenden Verkriechortes „hinter Klostermauern“ geeignet erscheinen als für einen Ort des sog. „wirklichen Lebens“.
Nach meinen Erfahrungen kann und sollte man die Verhältnisse auch einmal anders sehen.
Wer ist es, der sich verkriecht, versteckt, flüchtet? Sind es wirklich der Mönch und die Nonne? Kann es nicht vielleicht auch der sein, der von einem Zeitvertreib zum anderen hastet? … der, der alles mitnehmen und nichts verpassen will? … der nach der einen Zerstreuung für die nächste Lebenslust einen Freizeit-Animateur sucht? … der seinen Seinswert an den Sprossen der Karriereleiter misst? Es sind mir nicht wenige Menschen begegnet, die vor lauter Weltläufigkeit nie zu sich selbst kommen, ... die in der Mitte ihrer Lebensjahre leer gelaufen sind.
Kommt heraus, Elija und Lazarus, aus dem Wirrwarr der unendlichen Vielfalt und stellt euch dem einen Not Wendenden und Halt Gebenden. Es muss im Leben mehr als alles Geben, - eines in dem Allerlei des Vielen.
In diesem Sinn haben Sie, liebe B., einen Ruf gehört, sind neugierig geworden und haben sich auf den Weg gemacht. Sie verlangen nach dem, der für das bunte Leben Mitte und Halt ist, - nach dem, der Ihnen den Mut zu Ihren Tiefen und Untiefen gibt, - nach dem, der Ihnen die Kraft schenkt, das Leben, seine Menschen und sich selbst zu ertragen und positiv zu tragen.
Lazarus wird von Jesus aus dem Grab gerufen und Jesus sagt den Umstehenden: „Löst ihm die Binden.“ So erfährt er Ent-Bindung und neue Geburt, Ent-Wicklung und neues Leben.
Elija wird von Jahwe aus der Höhle gerufen: Komm heraus, … und stell dich … auf den Berg … vor den Herrn.“ Auf den Berg sind Sie, B., gerufen, - Gotteserfahrung erwartet Sie dort. Das Ordenskleid, das Sie heute empfangen, mag Ihnen Zeichen für die notwendige Bergausrüstung sein. Die Gemeinschaft der Schwestern will Ihnen Seilschaft auf der Route sein.
Der Herr will Sie segnen. Er segne Sie.
Abt Albert Altenähr OSB
2006-01-19
Bild: Giotto, Auferweckung des Lazarus. Assisi, S. Francesco