Lehrstunde in „Abendland“
Als ich am Morgen vor der Kirche Laub zusammenkehre, kommt aus der Asylanten-Unterkunft gegenüber ein Mann heraus. Er knüpft sich das Jackett zu, schaut kurz zur Kirche rüber, … macht ein Kreuzzeichen und geht seinen Weg. Ich quere die Straße und spreche ihn an. Er ist aus Syrien.
„Christ?“ „Ja.“
„Aramäischer Christ?“ „Katholik.“
Noch ein paar radebrechende Worte, dann klingelt sein Handy. Wir verabschieden uns mit einem Händedruck.
Sein Kreuzzeichen beim Weg an der Kirche vorbei geht mir nach. Ich kenne das aus meiner Volksschulzeit in den späten 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Unser gestrenger Lehrer damals versuchte, uns das einzuimpfen.
„Wenn man an einem Bildstock oder an einer Kirche vorbeigeht, zieht ein Mann seinen Hut. Das ist ein Zeichen des Respekts und der Höflichkeit vor dem lieben Gott. Man macht ein Kreuzzeichen. Die Mädchen können auch einen Knicks machen.“
Mir steht vor allem ein bestimmter Bildstock vor Augen, an dem wir oft bei Spaziergängen vorbei kamen. Da habe ich häufiger Männer gesehen, die ihren Hut lüfteten, und andere Spaziergänger, die ein Kreuzzeichen machten.
Lang, lang ist’s her. Auch für mich ist das nur noch ferne Erinnerung. Und damals ist es mir auch nicht eingefleischte Praxis geworden. Ein „Macho-Junge“ zeigt keine „sentimentale Frömmigkeit“ …, geschweige denn, wenn er mit Kumpels oder Mädchen unterwegs ist. Was würden die denn von einem denken!
Aber haften geblieben ist das Wissen, dass das alter und selbstverständlicher (katholischer) Brauch im christlich geprägten Abendland war.
Heute gehen viele für dieses Abendland auf die Straße, um es vor einer Islamisierung zu bewahren. Mit Glaube an Gott und Christsein dürften etliche (viele? / die meisten?) von den Demonstranten nicht viel am Hut haben.
… und da kommt ein Flüchtling aus einem islamisch geprägten Land des Nahen Ostens daher und macht uns „altes Abendland“ vor: das Kreuzzeichen vor einer Kirche. Dafür ist er geflohen.
Ich denke: Hut ab vor dem Mann aus Syrien! Er gab mir eine Lehrstunde in Abendland und Glaubens-Bekenntnis.
Passiert am 10.10.2015
Albert Altenähr