Spirituelles
Nachtherbergen für die Wegwunden
Anläßlich der Wallfahrt zum 225-jährigen Bestehen der Kevelaerbruderschaft Eilendorf nahm ich die nachstehenden Verse aus einem David-Gedicht von Nelly Sachs als Thema der Pilgerpredigt in Kevelaer am 28. Juli 99. Meine Predigt entwickelte sich aus den nachfolgenden Gedanken. Einiges wurde in der Predigt über diese Gedanken hinaus gesagt, anderes wurde nicht gesagt:
„… im Mannesjahr
maß er, ein Vater der Dichter,
in Verzweiflung
die Entfernung zu Gott aus,
und baute der Psalmen Nachtherbergen
für die Wegwunden.“
Mir will scheinen, die Dichterin spricht ihre eigene und wohl auch eine allgemein-menschliche Lebenserfahrung dem König und Dichter des Alten Testamentes zu. Dem erwachsenen Menschen – David ist ‚im Mannesjahr‘ – begegnen auf seinem Weg viele Problem-Erlebnisse und -Eindrücke, so daß der glatte und frohe Gottesglaube der Kindheit und Jugend hohen Belastungen ausgesetzt ist. Gott scheint dann nicht selten ‚verzweifelt fern‘ zu sein. Der Weg auf Gott hin dünkt immer weiter statt kürzer zu werden. Der lange Weg läßt den Menschen sich wundlaufen. Er ist ‚wegwund‘. Dem suchenden Menschen kann das zum ernsten Zweifel an Gott selbst werden. Gibt es ihn überhaupt? Wo ist er? Wenn es ihn denn gibt, sieht er nicht, wie ich mich abmühe, ... - am Leben, - an mir selbst, - an ihm verzweifle?
David – und nicht nur er – sehnt sich nach ‚Herbergen‘ auf dem Weg, - nach Orten des Ausruhens, - der Erholung. Auf Wanderungen und langen Reisen schaut der Mensch abends ganz einfach nach einem ‚Dach über dem Kopf‘ aus, um den Unbilden des Wetters nicht ausgesetzt zu sein, - nach ‚vier Wänden‘, die vor Angriffen schützen. Die ‚Nachtherbergen‘ sprechen von den Dunkelheiten und Dunkelzeiten des Lebens, wo alles ‚in schwarz‘ gemalt zu sein scheint und alles zuviel wird.
In Nelly Sachs‘ Gedicht findet David solche Herbergen nicht, er ‚baut‘ sie: die Psalmen. In diesen alten Gebeten scheint die Dichterin ihrerseits Herbergen für die Nächte ihres Verzweifelns gefunden zu haben.
Wallfahren ist Herbergsuche auf den Lebenswegen. Drei Herbergs-Elemente scheinen mir für die Wallfahrt charakteristisch zu sein.
Sie führen immer zu einem Einkehrort, in den große Hoffnungen gesetzt werden. In besonders dichter Weise wird dort Gottes Nähe geglaubt. Nicht, daß Gott hier ‚mehr‘ gegenwärtig ist als anderswo, aber der Mensch ist hier offener für die ‚gute Botschaft‘. Es sind Orte, an denen ‚Licht‘, - ‚Trost‘ (Kevelaer verehrt Maria als ‚Trösterin der Betrübten‘) geschenkt wird, - an denen mir der Himmel ‚offener‘ ist. Der Patriarch Jakob macht diese Erfahrung auf der Flucht vor seinem Bruder Esau in Beth-El: „Wirklich, der Herr ist an diesem Ort“ (Gen 28,16). Orte sind wichtig, wo wir einkehren und zu Hause sein können.
Wallfahrten sind geprägt von sie begleitenden Worten, in denen die Menschen sich aussprechen. Sie sprechen sich voraus auf den Ort hin, den sie aufsuchen. Sie sprechen ihre Sorgen vor Gott und seinen Heiligen aus. Sie machen nicht ‚fromme Worte‘, sondern sie sprechen sich selbst, wie sie in all ihrer kantigen, schartig-verletzten Situation sind, aus. Gott sehnt sich nicht nach ‚frommen‘, sondern nach sich aussprechenden Menschen. Vielleicht sollte man manche Lieder und Gebete einmal darauf überprüfen, ob sie diesem Anspruch standhalten. Die Psalmen halten diesem Standard stand, weil sie den Menschen nicht frommer machen, als er ist.
Wallfahrt lebt in der Begegnung und sucht die Begegnung. Ich könnte es auch Gefährtenschaft nennen. Der oder die andere, mit denen ich unterwegs bin, stärken mich und geben mir Sicherheit. Den Heiligen, den ich am Wallfahrtsziel in besonderer Weise um Fürsprache anrufe, bitte ich um Wegbegleitung zu Gott hin. Und – ausgesprochen oder unausgesprochen – ist es auch nichts anderes, um das ich Gott selbst bitte: mir nahe zu sein mit seiner Gegenwart und mich in meinen Nöten nicht allein zu lassen. Wallfahrten sind Intensivkurse der Communio, - der Gemeinschaft. Insofern sind es durchaus ‚gefährliche‘ Tage; denn nur allzu oft bleibt im Hintergrund die Devise: Lieber Gott, sei mir ganz nahe ..., aber komm mir, bitte, nicht zu nahe! Gott aber will mir so nahe kommen, daß sich etwas ändert, ... – daß ich ein anderer werde.
Wenn die Wallfahrt dann vorbei ist, was dann? Ist alles an den Wallfahrtsort und den Wallfahrtszeitraum gebunden? Wartet zu Hause nur grauer Alltag mit der Wahrscheinlichkeit tiefdunkler Erfahrungen?
Unsere Gottesdienste zu Hause, - können wir sie nicht als Wallfahrtstunden verstehen? Ein Ort mit guten Erfahrungen gefüllt, - mit dem Gespräch der Gebete und ermutigender und wegweisender Predigt, - mit ‚Kommunion‘, Gemeinschaft mit Gott und den Menschen?
Wenn einer bei mir anklopft – oder ich bei ihm -, dann sucht er einen Ort, - ein Gespräch, - Gemeinschaft mit mir. Er ist – vielleicht nur für einen Moment – auf Herbergsuche. Die Menschen können einander ‚Wallfahrtsort‘ sein. Das ist Christsein im Wallfahrtsgedanken.
Das macht Kevelaer, Lourdes, Santiago ..., Rom oder Jerusalem als Wallfahrtsorte nicht überflüssig, aber es relativiert sie und bewahrt sie vor dem Irrglauben, daß von ihrem Besuch das Heil abhängig sei. Der von Gott geschenkte und vor ihm zu verantwortende Heilsort ist zuallererst die Situation des Alltags, nicht das Ereignis Wallfahrt.
Wer sich auf eine Wallfahrt begibt, darf sich als Christ auf Jesus und seine Wanderungen zu den Jerusalemer Festen berufen. Er sollte allerdings auch das wallfahrtskritische Gespräch Jesu mit der Samariterin am Jakobsbrunnen bedenken. Die Frau fragt ihn: „Unsere Väter haben auf diesem Berg Gott angebetet; ihr aber sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten muß. Jesus sprach zu ihr: Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Die Stunde kommt, und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden. Gott ist Geist, und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten“ (Joh 4,20-21. 23-24).
Abt Albert Altenähr OSB
1999-07-29