Paris – eine geistliche Botschaft
Das Gerichts-Tympanon von Notre Dame
Paris ist mehr als eine Reise wert, - es verdient viele Reisen. Mir ist bisher nur die Umsteige-Situation, der Wechsel von einem Kopfbahnhof zu einem anderen, vergönnt gewesen mit einem Metro-Stopp an der Station Cité - ... weil ich die Umsteigezeit großzügig kalkuliere. Das ist natürlich viel zu wenig für Paris oder ist es vielleicht doch „mehr“ von Paris, als wenn ich eine Woche oder länger durch die Stadt gestreift wäre? Weil ich die lange Warteschlange vor der Sainte Chapelle scheue, reduziert sich mir der kurze Stopp auf der Seine-Insel noch einmal: Notre Dame ist für mich Paris. Und noch einmal reduziert sich mein Paris. Mein Besucherblick konzentriert sich auf das Tympanon über dem Mittelportal der Kathedrale. Das ist Paris für mich. Und selbst diese kleine Pariser Mitte reduziert sich noch ein letztes Mal in ein Detail des Tympanons hinein.
Das unendlich viele außerdem Sehenswerte von Paris, - ich brauche es nicht mehr. Ich vermisse es nicht. Ich bin nicht arm dran, weil ich das alles nicht, - noch nicht gesehen habe und vielleicht auch nie sehen werde. Ich sehe dieses Tympanon, - fühle mich reich beschenkt, - bin reich. Ich sehe ein staunenswertes Kunstwerk, vor allem aber eine Botschaft.
Eingebettet in fünf Bogenreihen von Heiligen und Engeln hat der Steinmetz am Ende des 12. Jahrhunderts das Jüngste Gericht dargestellt. Möglicherweise „haben“ wir es heute nicht mehr so mit dem Jüngsten Gericht wie vergangene Zeiten. Der gute und liebende Gott „kann“ doch eigentlich nicht als anders als verzeihend und den Himmel weit öffnend sein. Und als Eintrittsbild in eine Kirche mögen wir deshalb die plastische Erinnerung an das Endgericht als wenig einladend und deplaziert finden. Auf der anderen Seite darf man aber vielleicht durchaus darauf aufmerksam machen, dass ein so ernstes Bild daran erinnert, nicht einfach in eine Kirche und den Gottesdienst „hinein zu baseln.“
In drei Ebenen wird das Gerichtsgeschehen entfaltet. Auf der ersten Ebene erleben wir die Auferweckung der Toten. Beim Posaunenschall zweier Engel rechts und links außen richten sich die Verstorbenen in ihren Gräbern aus dem Todesschlaf auf und schieben die schweren Grabsteine beiseite. Wir erkennen Krieger, Bischöfe und Fürsten. Insgesamt sind es zwanzig Personen. Etliche richten den Blick nach oben. In der Szenemitte ein Alter mit langem Bart: Abraham oder ein anderer der Patriarchenväter? Weiter rechts ein markantes Gesicht, das sehr gut mit der klassischen Petrusdarstellung harmoniert. Auf jeden Fall eine bunte Darstellung verschiedenster Menschen.
Auf der mittleren Ebene das entscheidende „Scheidungs-Geschehen“ der Seelenwägung. Eine Gruppe von zehn Verdammten wird von einem Teufel triumphierenden Schrittes aus dem Bild herausgeführt. Den letzten von ihnen fasst ein zweiter Teufel an der Schulter und drängt ihn vorwärts. Die Verdammten sind eng auf- und aneinander gedrängt. Sie sind mit einer langen Kette gefesselt und alle sind leicht gebeugt. Ihr Blick ist gesenkt, - auf jeden Fall wandert er aus dem Bild heraus auf den Feuerofen hin, der sich in der ersten Außenbogenreihe zeigt. Kopfüber stürzt ein Verdammter in das ewige Feuertopf, in dem ein weiteres Opfer von einem Teufel gequält wird.
In der linken Bildhälfte der mittleren Ebene sind die im Himmel Willkommenen abgebildet, ebenfalls zehn an Zahl. Da sie sich die vorhandene Hälftenbreite nicht mit Engeln teilen müssen – wie die zehn Verdammten mit zwei Teufeln – stehen sie bei aller Geschlossenheit der Gruppe doch sehr viel freier da als die Verdammten. Will der Steinmetz andeuten, dass Himmel Weite ist, Hölle dagegen Enge? Es sind erstaunlich gekrönte Häupter in dieser Gruppe. Ob der Künstler damit seinen Auftraggebern eine Reverenz erweisen wollte? Oder war es seine Überzeugung, dass die Regierenden es leichter haben, einmal als Heilige verehrt zu werden?
Die meisten Erlösten blicken in die dritte Ebene hinauf, anderen scheinen sich direkt dem Betrachter zuzuwenden oder aber dem großen Engel, der sich auf der ersten Bogenreihe ihnen zuneigt. Er hat die Arme einladend weit offen. Der Zeigefinger seiner rechten Hand weist auf eine weitere Figur: auf Abraham, in dessen Schoß drei kleine Gestalten geborgen sind.
In der Mitte zwischen den Erlösten und den Verdammten ist deutlich dominierend die Seelenwägung dargestellt, die die vom Tod Erweckten scheiden wird. Ein großer Engel hält in kraftvoller Ruhe uns Souveränität die Seelenwaage, in deren beiden Schalen zwei Seelen auf das Waage-Urteil warten. Die Schale neigt sich eindeutig der Himmel-Seite zu. Dem Engel gegenüber steht gleich großer fülliger Oberteufel, der den Waagebalken und gleichzeitig die Wagschale auf seiner Seite herunterdrücken will. Er wird in seinem Bemühen durch einen kleinen Teufel unterstützt, der mit einem Enterhaken die Wagschale nach unten zieht. Trotz der vereinten Kraft scheint es nicht gelingen zu wollen, die Seelenwaage zugunsten der Teufel zu senken.
Diese Mittelszene ist es, die mich so anspricht. Der Engel Gottes strahlt souveräne Gelassenheit aus. Er steht alleine da, aber in ihm ist größere Kraft als in seinem Gegenspieler mit seinen drei Unterteufeln. Der Teufel muss sich schon „verteufelt“ anstrengen, um seinen Fang zu machen. Diese Vorstellung stellt auf den Kopf, was sich mir in der Kindheit so stark eingeprägt hat, dass es – theologisches Wissen hin / theologisches Wissen her – immer wieder hoch kommt: es sei sehr leicht, dem Teufel in die Finger zu fallen, aber unendlich schwer, in den Himmel zu kommen. Hier lese ich es genau umgekehrt. Das tut in der Seele gut.
Die positive Botschaft, die ich hier wahrnehme, fällt mir wohl auch deshalb so auf, weil in der gängigen Vorstellung über das Mittelalter eher die übergroße Teufelsmacht und der Schrecken vor dem Jüngsten Gericht dominiert. Die Sequenz des „Dies irae“, die etwa 50 bis 70 Jahre nach dem Tympanon von Notre Dame um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden ist, hat dieses beängstigende Bild des Jüngsten Gerichts weitgehend zementiert.
Die dritte Ebene ist voll meditativer Ruhe. Breit thront Christus, hebt beide Arme, wohl um seine Wundmale zu zeigen, und blickt in die Ferne. Zwei Engel stehen ihm zur Seite und halten Kreuz und Lanze. An ihrer Seite wiederum knien zwei Stifterfiguren. Dieser Christus ist nicht so sehr aktiver Endzeit-Richter, - er ist in seiner Kreuzes-Liebe zu den Menschen bereits das Urteil über sie.
Als Schemel seiner Füße dient dem Thronenden das Kreissegment einer Erdkugel. Darin erkennen wir die Palastgebäude einer Stadt. Ist es die neue Stadt Jerusalem, von der die Geheime Offenbarung spricht? Die Erlösten blicken zu ihr und zu dem thronenden Christus auf. Nicht das alte Paradies des Adam und der Eva ist ihr Ziel, sondern dieses himmlische Jerusalem, das vom Himmel herabsteigt und ihre ewige Heimat sein wird.
Mein Geschichtswissen sagt mir, dass der Steinmetz dieses neue Jerusalem aus seinem Stein gemeißelt hat, als das Jerusalem seiner Zeit gerade endgültig für die Kreuzfahrer verloren gegangen war. Der Verlust von Jerusalem ließ zwar noch einmal einen großen Kreuzzug starten (1190), aber die 100 Jahre Kreuzfahrer-Herrlichkeit war zerbrochen. Die Trauer um den Verlust rückte die Botschaft vom neuen Jerusalem ganz neu in die Mitte der Gedanken und der Glaubenssehnsucht.
Richtig lieb und verspielt sind die einzelnen Engel, die in den ersten beiden Bogenreihen auf das Geschehen blicken. Sie sitzen wie gespannte Zuschauer in Theaterlogen da. Der eine hat einen Arm lässig auf die Brüstung gelegt, - ein anderer hat sich mit beiden Ellenbogen abgestützt, um mit seinen Handrücken das Kinn zu stützen, - wieder andere haben mit beiden Händen die Brüstung gefasst und scheinen gleich aufspringen zu wollen. Diese Engel laden den Betrachter zu eigenem Schauen und Nachdenken ein. Sie nehmen ihm den ängstlichen Ernst vor dem, was er sieht und befreien ihn zu einem heiteren Ernst, sich der Chance des Glaubens an die Kreuz-Liebe Christi bewusst zu werden und ihn sich in einem Glaubensleben zu er-leben.
Ja, Paris ist eine Reise wert. Dieses Tympanon ist eine weitere Paris-Reise wert – und noch viele weitere. Seine Botschaft auf sich wirken zu lassen ist mehr wert als „tout Paris“. Paris hat mir seinen Mehrwert offenbart!
Abt Albert Altenähr OSB
2004-05-09