„Man kann nie alles gleichzeitig bekommen.“
Gedanken über die Entscheidung
Eine Bekannte und Freundin unseres Klosters macht mich auf eine Kolumne in der Zeitung „Die Zeit“ aufmerksam, die wirklich nichts Neues sagt, aber eine „Fast-banal-Weisheit“ nachdenkenswert ins Licht hebt. Da heißt es u.a.: „Man kann nie alles gleichzeitig bekommen. Der kluge Konsument weiß das. Entweder ist ein Auto groß und bequem, oder es ist ein Sportflitzer. Beides zusammen geht nicht. Im Leben ist es meistens genauso. Eine Menge Unzufriedenheit ließe sich vermeiden, wenn uns allen klar wäre, dass es auch im Leben keine bequemen, geräumigen Sportwagen gibt“ (Harald Martenstein, Unvereinbar. … über Konsum- und Lebensentscheidungen. In: Die Zeit, 8.6.2006).
Meine Email-Gesprächspartnerin findet die Aussagen „in ihrer Schlichtheit irgendwie - gut. .... und gut weiter zu spinnen: Man kann nicht Christ sein und die Kirche verleugnen, man kann nicht nachfolgen und eigene Wege gehen, man kann nicht Mönch sein und ... Was sagt eigentlich Benedikt zum Thema "Entscheidung" - und vor allem, wie man damit zufrieden lebt?“
Ja, was sagt Benedikt eigentlich zu all dem? Im Folgenden sollen einige Spontangedanken verfolgt werden, die mir bei diesen Fragen aus der Email gekommen sind. Sie sind unfertig. Sie wollen das, was in mir ist, festhalten, und zugleich anregen, weiter darüber nachzudenken.
Adressat der Gedanken sind zunächst einfach ich selbst und die Email-Gesprächspartnerin … und schließlich jene, die es vielleicht interessiert.
Gemeinschaft
Benedikt beginnt seine Regel, indem er in einem ersten Kapitel verschiedene Mönchsarten seiner Zeit vorstellt und eine klare Präferenz für das zönobitische Mönchtum formuliert. Besonders kritisch äußert er sich über zwei Mönchsarten, die er Gyrovagen und Sarabaiten nennt. Sie frönen dem Prinzip „Lust und Laune“, und wenn und wo es nicht mehr „passt“, geht’s woanders hin. Sie sind entscheidungsscheu und konsequenzflüchtig. Sie wollen alles und wagen nichts.
Regula Benedicti 1: 6 Die dritte Art sind die Sarabaiten, eine ganz widerliche Art von Mönchen. Weder durch eine Regel noch in der Schule der Erfahrung wie Gold im Schmelzofen erprobt, sind sie weich wie Blei.
7 In ihren Werken halten sie der Welt immer noch die Treue. Man sieht, dass sie durch ihre Tonsur Gott belügen.
8 Zu zweit oder zu dritt oder auch einzeln, ohne Hirten, sind sie nicht in den Hürden des Herrn, sondern in ihren eigenen eingeschlossen: Gesetz ist ihnen, was ihnen behagt und wonach sie verlangen.
9 Was sie meinen und wünschen, das nennen sie heilig, was sie nicht wollen, das halten sie für unerlaubt.
10 Die vierte Art der Mönche sind die sogenannten Gyrovagen. Ihr Leben lang ziehen sie landauf landab und lassen sich für drei oder vier Tage in verschiedenen Klöstern beherbergen. Immer unterwegs, nie beständig, sind sie Sklaven der Launen ihres Eigenwillens und der Gelüste ihres Gaumens. In allem sind sie noch schlimmer als die Sarabaiten.
Zurückhaltend ist Benedikt auch gegenüber den Einsiedlern und das vor allem dann, wenn einer allzu schnell das Anachoretentum als die ihm gemäße Form der Gottsuche zu erkennen meint. Die erste Begeisterung für das Mönchsleben (RB 1,3) kann blind machen für die Realität des Weges, den der einzelne gehen kann und schrittweise gehen muss.
Für unsere Frage lese ich aus diesem Regelkapitel, dass Benedikt die Fragen nach der Entscheidung kennt. Er sieht in seinem Umfeld Entscheidungsscheu und Entscheidungsvorschnelligkeit. Benedikt plädiert für einen langsamen Prozess, in dem der Alltag des Miteinanders das Lernfeld ist. Das Lernen voneinander und miteinander ist Benedikts Lehr- und Lernmethode.
In diesem Prozess ist der Anfang … Anfang. So muss am Anfang nicht alles stehen. Nur der Anfang als solcher muss ganz gelebt werden. Wenn er ganz gelebt wird, dann ermutigt er zu einem Bisschen mehr, - dem nächsten Schritt, - einem dritten (vgl. RB 62,4) usw. Entscheidung, wie ich sie aus diesem Gedanken heraus verstehe, ist darum nicht etwas, das am Anfang gefällt wird – und damit ist sie gefallen -, sondern sie ist ein Wachsen-Wollen und Wachsen auf eine Fülle hin. Entscheidung ist erst dann zu ihrer Fülle gereift, wenn sie zur Freiheit für Gott in der End-Scheidung gewachsen ist.
Prüfen
Benedikt misstraut dem überbordenden Anfangseifer. Den Klosterkandidaten lässt er zunächst einmal „draußen vor der Tür“ (RB 58,1-4; 60,1). Der Kandidat muss zeigen, dass er wirklich wollen will. Ich glaube, das ist und bleibt die entscheidende Anfrage, die der Anklopfende sich „vor der Tür“, die er sich aber auch weiterhin „im Kloster“ stellen muss. In großer Radikalität, - ja, ich möchte sagen Brutalität wird sie dem Klosterinteressenten gestellt, der bereits Priester ist: „Freund, wozu bist du gekommen?“ (RB 60,3). Benedikt stellt hier nicht irgendeine neutrale Frage. Es leuchtet die Szene des Judasverrates im Garten Getsemani - unangenehm - hell auf. Der Interessent wird auf die „Gefahr“ und Gefährdung seines Anliegens hingewiesen. Der Anklopfende muss sich bleibend bewusst sein, dass mit der Eingangsentscheidung kein Garantieschein mitgeliefert wird. „Judas“ begleitet ihn stets als eigene Möglichkeit.
Für die Anfangsphase der Entscheidung gibt Benedikt eine sehr präzise zeitliche Schrittfolge an. Jedes Mal ist dabei eine „kleine“ Entscheidung zu treffen, auf die dann weiter aufgebaut werden kann.
1. Die Beharrlichkeit des Anklopfens „vor und an der Tür“: vier bis fünf Tage (RB 58,3).
2. Einige Tage in der Gästewohnung (RB 58,4).
3. Danach Aufnahme im Raum für die Novizen (RB 58,5).
3.1. Nach zwei Monaten: Erstes Vorlesen der Regel (RB 58,9).
3.2. Sechs Monate danach: Zweites Vorlesen der Regel (RB 58,12).
3.3. Weitere vier Monate später: Drittes Vorlesen der Regel (RB 58,13).
4. Versprechen und Aufnahme in die Gemeinschaft (RB 58,14).
In dieser zeitlichen Fixierung geht es natürlich im Wesentlichen um Inhaltliches. Benedikt will seinen Novizen in die Klosterrealität einführen und in der Konfrontation damit in die Konfrontation mit der eigenen Realität führen. Das Noviziat will aus den Träumen herunterholen auf den Boden der Wirklichkeit. Es ist ein Weg in die Demut, das „Ist“ positiv als Referenzpunkt zu nehmen, von dem allein es aus- und weitergehen kann und muss. Fast möchte ich sagen, wer sich an den Ist-Realitäten zerreibt – den eigenen und denen, die ihm von außerhalb seiner selbst begegnen – , vergeudet die Kraft zum Aufstieg.
Regula Benedicti 58: 7 Man achte genau darauf, ob der Novize wirklich Gott sucht, ob er Eifer hat für den Gottesdienst, ob er bereit ist zu gehorchen und ob er fähig ist, Widerwärtiges zu ertragen. 8 Offen rede man mit ihm über alles Harte und Schwere auf dem Weg zu Gott.
Das Zeitraster der Benediktsregel hat sich im Laufe der Jahrhunderte geändert. In der Regel dauert es heute bei den Benediktinern etwa fünf Jahre, bis einer voll in die Gemeinschaft aufgenommen wird. Das dreimalige Vorlesen der Regel innerhalb eines Jahres ist in der Form der täglichen abschnittweisen Regellesung eine gute Tradition der Klöster geworden. Es hält die Erinnerung und das Bewusstsein wach, dass mit der endgültigen Professentscheidung der Wachstumsprozess nicht abgebrochen werden darf. Benedikts Überzeugung, dass seine Regel sowieso nur einen Anfang umschreibt und initiiert (RB 73,1), lässt deutlich werden, dass letztlich das ganze Leben ein Noviziat (… für den Himmel, - die patria caelestis [RB 73,8]) ist.
Stabilitas
Über das benediktinische Gelübde der „Stabilitas“ habe ich andernorts Verschiedenes geschrieben. Hier will ich es einmal übersetzen als „Entschiedenheit in der getroffenen Entscheidung“. Dass ich das nicht als einen Ausdruck der Erstarrung verstehe, dürfte aus dem Vorherigen deutlich sein. Stabilitas ist für mich ganz im Gegenteil ein Ausdruck von Dynamik und Freiheit. Und sie ist die Freiheit, nicht jeden Tag das Ei neu legen (erfinden) zu müssen, um es dann als Ei des Kolumbus stolz zu begackern.
Einige „Grund-Sätze“ mögen hier genügen.
Entscheide dich, dich zu entscheiden.
Nicht heute „hü“ und morgen „hott“.
Dranbleiben, um näher dranzukommen.
Das „Ja“ genießen, - es entlastet.
Den Cantus firmus entdecken und üben.
Eine Kurzformel für den Glauben finden.
Arm ist, wer alles Mögliche versucht,
reich, wer den Einen wagt.
„Hic Rhodus, hic salta“ (Aesop)[1].
Passion und Vision
Meine Gesprächspartnerin interessiert zum Schluss ihres Fragens nach der Entscheidung die benediktinische Antwort: „… und vor allem, wie man damit zufrieden lebt.“
Mir kam beim Lesen spontan die Gegenfrage: „Was ist denn eigentlich für Sie (und überhaupt) ‚Zufriedenheit’?“ und die zweite Frage: „Wo steht geschrieben, dass die Zielperspektive von Christsein und dann noch einmal Mönchtum meine ‚Zufriedenheit’ ist?“ Natürlich sind beide Spontanantworten nicht zufrieden stellend. Aber in diese Richtung auch nachzudenken, lohnt sich allemal.
Benedikt weist gleich im Prolog seiner Regel darauf hin, dass in seiner „Schul-Regel“ sicher das eine oder andere dem Mönch „hart“ ankommen kann. Er sagt es vor allem den neu Anfangenden, aber halt doch auch allen Mönchen, die diese Anfänger-Regel für ihr Leben nutzen. Er sieht dann aber auch, dass mit dem Wachsen der Einübung die Härten leichter werden. Nicht dass etwas von den Forderungen zurückgenommen wird, aber die „gefühlte Mühe“ ist nicht mehr so drückend. Benedikt wird in seinem Ausdruck richtiggehend überschwänglich. Der labor, die Mühe wandelt sich fast zum ludus, zum Spiel. Dabei wird die Mühe nicht überspielt. Sie bleibt sehr bewusst, aber weil sich die Dinge eingespielt haben, zeigt sich eine Harmonie, die das Schwere leicht erscheinen lässt.
Benedikt fasst abschließend seine Gedanken zusammen, indem er sie in das Paradigma von Leiden und Auferstehung Jesu Christi einmünden lässt. Er tut das in einem nur kurzen Aufblitzen-Lassen, nicht in einer episch breiten (… westfälischen) „Öpferkes-“ oder aufgesetzten „Herrlichkeits-Mystik“. Benedikt jammert sich nicht ins Jammertal hinein, noch trällert er ein Wolken-Halleluja. Fast will mir scheinen, dass er seine Mönchs-Schüler mit seinem nur kurzen Hinweis vor beidem warnen will. Er will weder Leidensbräute noch Halleluja-Freaks. Er will … Menschen – handfest, strapazierfähig, wachstumsbereit.
Regula Benedicti Prolog: 45 Wir wollen also eine Schule für den Dienst des Herrn einrichten. 46 Bei dieser Gründung hoffen wir, nichts Hartes und nichts Schweres festzulegen. 47 Sollte es jedoch aus wohlüberlegtem Grund etwas strenger zugehen, um Fehler zu bessern und die Liebe zu bewahren, 48 dann lass dich nicht sofort von Angst verwirren und fliehe nicht vom Weg des Heils; er kann am Anfang nicht anders sein als eng. 49 Wer aber im klösterlichen Leben und im Glauben fortschreitet, dem wird das Herz weit, und er läuft in unsagbarem Glück der Liebe den Weg der Gebote Gottes. 50 Darum wollen wir uns seiner Unterweisung niemals entziehen und in seiner Lehre im Kloster ausharren bis zum Tod. Wenn wir so in Geduld an den Leiden Christi Anteil haben, dann dürfen wir auch mit ihm sein Reich erben.
Und noch einmal: Wie man mit einer Entscheidung zufrieden lebt? Indem man mit ihr … zu ihr hin unterwegs ist. Sie ist jeweils ein Vorentwurf, den das Herz einholen muss. Sie ist ein Vorwurf aus dem Morgen an das Heute, das noch nicht ideal ist. Sie ist ein Voraus-Wurf aus dem Heute in das Morgen, der uns in Bewegung bringt.
Bei einer Expedition in den Regenwäldern des Amazonas treibt der weiße Leiter seine Indio-Träger vorwärts. Nach einigen Tagen großer Marschleistung bleiben die Träger stehen, setzen sich auf den Boden und sind durch nichts zu bewegen, den Marsch wieder aufzunehmen. Der Weiße fragt die Träger nach dem Grund ihrer Arbeitsverweigerung.
„Wir sind so schnell gelaufen, dass unsere Seelen nicht mitkamen. Wir müssen warten, bis sie uns wieder eingeholt haben.“
Ich wünsche meiner Gesprächspartnerin das Geschenk der Zufriedenheit, den Weg zum Frieden … und mir selbst natürlich auch.
Albert Altenähr OSB
2006-06-14
[1] Hic Rhodus, hic salta! (lateinisch: Hier ist Rhodos, hier springe!) bedeutet: Zeig hier, was du kannst. Die Worte stammen ursprünglich aus der Fabel „Der Prahlhans“ von Aesop und galten als Aufforderung an einen Fünfkämpfer, der wiederholt mit seiner herausragenden Leistung beim Weitsprung in Rhodos geprahlt hatte. Als seine Gesprächspartner genug von seiner Prahlerei hatten, forderten sie ihn auf, das Geleistete hier und jetzt zu wiederholen.