Die neue Stadt
Eine Erzählung in die Nacht hinein
Es ist eine der ersten Beichten des kleinen Jungen – nennen wir ihn Fritzchen. Er bekennt seine Sünden, gut vorbereitet und sortiert nach den Anregungen des Beichtspiegels im Gebetbuch der Diözese.
„ … und dann hab ich einmal den Kindersegen verhütet.“
Dass der Pfarrer nicht laut losprustete, spricht für ihn als erfahrenen Seelsorger.
„Wie war das denn da?“ fragt er.
„Ja, ich habe meine Mama geärgert, und da hat sie mich ins Bett geschickt und ist nicht mehr gekommen, um mir eine Geschichte zu erzählen und mir ein Kreuzchen auf die Stirn zu machen.“
Eine Kinderzimmer-Katastrophe. Ein Nacht-Beginn ohne Lichtglanz. Eine Nacht mit nur Dunkel.
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Der Evensong, eine Vesper, eine Komplet sind Schwellenriten des Abends, des Abschieds und des Anbruch eines Neuen. Der Morgen hatte uns in die Welt der Arbeit und des allgemeinen Alltagsgewusels geschickt. Nun kommen wir nach Hause, lassen den Tag hinter uns und fragen, was jetzt und dann und überhaupt auf uns zukommt. … und ob überhaupt da etwas ist, das lohnt und Zukunft ist.
Die Nacht und ihr undurchdringliches Dunkel ist das erste und scheinbar dominierende Signal des Neuen. Gibt es überhaupt ein Dahinter? Gibt es ein Morgen? Gibt es eine Zukunft?
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Der letzte Sonntag im Kirchenjahr ist im Zusammenhang des Kirchenjahres eine ebensolche Abendsituation des Abschieds und der Frage nach dem „Wie-es-weitergehen-wird“ und dem „Was-jetzt?“
Unsere evangelischen Brüder im Glauben nennen diesen letzten Sonntag „Totensonntag“ oder auch „Ewigkeitssonntag“. Wir Katholiken begehen ihn als Fest – ja, als Hochfest „Christkönig“. Jeder dieser Namen setzt unterschwellige oder auch bewusste Akzente und Emotionsimpulse, denen jeder einzelne für sich nachspüren mag.
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Konkret haben wir für diesen Gottesdienst zwei Bibelstellen ausgesucht, in denen Aufbruch und helle Zukunft in die Nacht hineingesungen werden. Abraham hört den Ruf „Zieh in das Land, das ich dir zeigen werde“ (Gen 12). Der Engel entführt den Seher der Apokalypse auf einen Berg und zeigt ihm die Braut, die neue Stadt Jerusalem (Offbg 21). Gerade diese Passage der Bibel am Ende der Gesamtsammlung, die wir die Heilige Schrift nennen, ist eine Gute-Nacht-Geschichte Gottes in das Grau und Dunkel unserer Welterfahrungen.
Wir erleben Trump und Erdogan, Putin, Kim und Westentaschen-Gernegroße unter uns -, wir erleben Kriege, Minderheiten-Pogrome, Flüchtlingsströme und Fremden-Ressentiments -, und denken, ‚in welchen Zeiten leben wir eigentlich?‘. Da hilft wirklich nur noch Beten. Da hilft Er-Innerung, dass es ein Danach nach Trump und Erdogan und die anderen -, dass es ein Darüber-Hinaus über die Gernegrößen gibt.
Davon singt das Lied der neuen Stadt. Lichtglanz, kristallen strahlend. Nacht wird nicht mehr sein. Gott, der Herr, ist ihre Leuchte. Das ist die Geheime Offenbarung, das Geheimnis der Offenbarung, das Geheimnis des Glaubens.
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Ich möchte ein Gedicht von Marie Luise Kaschnitz – ein wenig abgeändert – an den Schluss stellen.
Manchmal geht etwas auf
geht uns etwas auf
mitten im Alltag
im Einerlei
im Frust und im Ärger
Nur das Gewohnte ist um uns
Keine Fata Morgana von Palmen
Mit weidenden Löwen
Und sanften Wölfen
Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken
Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus
Und dennoch
der Himmel ist da
ich weiß nicht wie
aber ich bin ganz sicher
er ist da
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Fritzchen, du vom Anfang, ich wünsche dir eine gute Nacht und ein gutes Aufwachen in den Advent und das Kommen des Herrn.
Albert Altenähr