Immer neu anfangen
Dem letzten Kapitel seiner Regel gibt der heilige Benedikt die Überschrift: "Die Regel als Anfang unseres Weges zur vollen Gerechtigkeit". Ein sperriger wie wegweisender Titel: Ordensleute sind und bleiben Anfänger. Wer meint etwas erreicht zu haben, etwas zu können, etwas zu vollbringen, der hat noch nicht gelernt, immer neu anzufangen. Wir möchten gerne etwas erreichen, bewegen, vollenden. Dieser Wunsch ist tief menschlich. Aber wir müssen immer neu lernen anzufangen.
Wer die Regel bis zum Ende gelesen hat, muss von vorne beginnen. So wird den Mönchen des heiligen Benedikt jeden Tag ein Abschnitt aus der Regel vorgelesen, ob er nun in die heutige Zeit passt oder nicht. Dreimal im Jahr wird so die ganze Regel zu Gehör gebracht. Aber mit dem Lesen und Hören ist es nicht getan. Ein chassidische Legende erzählt: "Meister, ich habe die ganze Thora gelesen. Was muss ich jetzt tun?" Und der Lehrer sagte: "Ach, mein Freund, die Frage ist nicht, ob du die Thora gelesen hast. Die Frage ist, ob die Thora in dich eingedrungen ist."
Vom heiligen Franziskus wird gesagt, er habe auf dem Sterbebett seinen Mitbrüdern zugerufen: "Brüder, lasst uns endlich einmal anfangen!" Anfangen womit? Immer neu mit der Suche nach Jesus Christus, der Mitte, Weg und Ziel allen christlichen Lebens sein will. Wo er aus dem Auge verloren wird, wo sich letztendlich nicht alles um ihn dreht, da wird alles zum Aktionismus.
Knapp sagt es der heilige Benedikt im Vers 26 des 4. Kapitel seiner Regel: "Der Liebe zu Christus nichts vorziehen." Wenn wir immer neu damit anfangen, dann wird unser Weg gut werden.
Abt Friedhelm Tissen OSB
2010-05-02
Text für orden.de, Kolumne vom 2. Mai 2010.