Unterwegs zur Mensch-Werdung -
Unterwegs im Mönch-Sein
Gedanken über 80 Lebens- & 60 Klosterjahre
Benedikt schreibt eine Regel für Mönche, die in Gemeinschaft unter Regel und Abt leben. Er nennt diese Art des Mönchtums das fortissimum genus = die stärkste Art.
RB 1,1 Wir kennen vier Arten von Mönchen. 2 Die erste Art sind die Koinobiten: Sie leben in einer klösterlichen Gemeinschaft und dienen unter Regel und Abt. … 13 … gehen wir mit Gottes Hilfe daran, der stärksten Art, den Koinobiten, eine Ordnung zu geben.
Ganz selbstverständlich und unanfechtbar hat sich dem damaligen Novizen diese Charakterisierung als qualitative Wertung eingeprägt. Mönchtum in klösterlicher Lebensgemeinschaft mit einem Abt an der Spitze und der tradierten Regel als Leittext ist wirkliches, wahres, eigentliches Mönchtum. Höheres gibt es nicht. Das Kloster, in das ich eintrat, war – selbstverständlich ! – der Paradeort solch wahren Mönchtums.
Je mehr ich die Regel Benedikts kennenlernte und je länger ich das Mönchtum in meinem Idealkloster lebte, desto stolpersteiniger erfuhr ich den tatsächlichen Mönchsweg. Die vielen Hinweise der Regel auf die Möglichkeiten und die Tatsächlichkeit der Regel-Unregel-mäßigkeiten ..., die konkreten Spannungen zwischen denen, die doch ein Herz und eine Seele sein wollen und sein sollten …, usw, usw …, und schließlich das Eigenurteil Benedikts, dass seine Regel nur einen bescheidenen ersten Ansatz zum Mönchsein beschreibe, lassen mich heute das Werturteil, dass das koinobitische Mönchtum das fortissimum genus sei, anders sehen. Das Mönchtum unter Regel und Abt ist das fortissimum genus, insofern es die quantitativ (!) stärkste Gruppe ausmacht. Es ist gewissermaßen - und ein wenig spitz überzogen formuliert - das „Normal-(mögliche-) Mönchtum“ für den „Normal-Christen“.
Immer wieder entdecke ich in Benedikts Regel Hinweise, dass er das/sein Mönchtum als ein Unterwegs zu einem irgendwie gearteten Mehr-Mönch-Sein betrachtet. Er schreibt keine Regel für fertige Mönche, sondern formuliert Wegweisungen, die tiefer/höher ins Mönch-Sein führen möchten. Die Auswahlkriterien für Ämterbestellungen zeigen uns Mönche, die einen solchen Weg bereits ein gutes Stück gegangen sind. Die Hochschätzung der seniores lässt ahnen, dass der Weg Jahre, ja die ganze Lebenszeit dauert. Der Priester, der sich der Gemeinschaft anschließen will, wird ermahnt, sich nicht auf dem (Weihe-)status auszuruhen, sondern die via / den Weg „mehr und mehr“ voranzuschreiten.
Neu in den Blick gewonnen habe ich in den letzten Jahren Benedikts doch sehr positive Aussagen über das Eremitentum.
RB1,2 Die zweite Art (der Mönche) sind die Anachoreten, das heißt Einsiedler. Nicht in der ersten Begeisterung für das Mönchsleben, sondern durch Bewährung im klösterlichen Alltag 4 und durch die Hilfe vieler hinreichend geschult, haben sie gelernt, gegen den Teufel zu kämpfen. 5 In der Reihe der Brüder wurden sie gut vorbereitet für den Einzelkampf in der Wüste. Ohne den Beistand eines anderen können sie jetzt zuversichtlich mit eigener Hand und eigenem Arm gegen die Sünden des Fleisches und der Gedanken kämpfen, weil Gott ihnen hilft.
Durch Jahre, Jahrzehnte war für mich der Einsiedler (auch der in Benedikts Regel) einer, der weit abseits von den Weltleuten und auch irgedwelchen Klöstern für sich lebte, seine Einsiedelei, seine Kapelle und sein Gärtchen liebte und pflegte, und allem jenseits seiner Mauern entsagt hatte. Wenn der Mönch einer Gemeinschaft diesen Schritt zum Einsiedlertum tat, war das zwar formal abgedeckt durch Benedikts Ausssagen in RB 1, aber eigentlich war es doch eher eine verschrobene Frömmigkeit, die unbenediktisch war. Mein Einsiedler war weniger ein spiritueller Lebensentwurf, sondern eher eine historische Größe aus dem „Ehe-vor-dem“. Er war ziemlich „deutsch-romantisch“ und – eben – etwas verschroben.
Die jüngeren Entwicklungen in der Kirche, die Erfahrung der nicht wenigen personellen „Wegbrüche“ und der offenkundigen Fragilität des gebliebenen / noch vorhandenen „Restes“ (und natürlich auch meiner eigenen Fragilität) lassen mich ein stärkendes Deutungsnarrativ suchen, das einen „Stand-Punkt“ bietet. Da ist vielleicht ein neues Lesen von Benedikts Hochschätzung der Einsiedler ein von mir bisher wenig beachteter Ansatz.
Der Einsiedler Benedikts ist kein alles umstürzender Idealist, der fertig vom Himmel in das Nest der heilen (Himmels-)Welt fällt. Er ist den Weg der Brüder-Gemeinschaft gegangen, hat die Verschiedenheiten in ihr ausgehalten und aus den Reibungen der Geschwisterlichkeit in ihr gelernt. Sein Wachsen geschieht in der Gemeinschaft und zugleich aus ihr heraus und über sie hinaus. Indem er so mehr und mehr zu seiner ureigenen Berufung findet, wird er in (!) der Gemeinschaft „einziger“, „originaler“, unverwechselbarer, … „einer“, … und „ein-samer“, … „Ein-siedler“. Er ist nicht mehr einer, der nur in der Schar – … der „Masse“ – der Brüder bestehen kann. Er hat so viel Stand gefunden, dass er sich im Einzelkampf (RB 1,5) bewähren kann.
Mir will scheinen, dass der Mönch Benedikts, wenn er denn in der Schule der Brüder bleibt, dahin geführt werden soll, in diesem Sinn „Einsiedler“ zu werden. Er weiß um und glaubt an Gottes Hilfe. Das ist sein Stand-Punkt, seine Felsen-Feste.
Das stabilisierende Lernprinzip – um das charaktistisch benediktinische Wort von der stabilitas anklingen zu lassen – sind mir die klaren Ordnungen geworden, die die Regel Benedikts durchziehen. Sie sind nicht einfach äußerer Zwang und innere Vergewaltigung, sondern Leiter-Holme (vgl RB 7), die den Stufen / Schritten Halt geben. Sie befreien vom Stress, das Leben und seine Alltage ständig neu erfinden zu müssen, bzw. stets darauf zu warten, bis mir (vielleicht) eine Eingebung zu einem besonderen Höhenflug kommt. Die disciplina / Disziplin ist in diesem Sinn Zeichen der Schülerschaft1 und Förderunterricht zu einer wachsenden Ich-Werdung.
Inhaltlich scheint mir das Eingangswort der Regel „ausculta = höre / lausche“ das Schlüsselwort der Regel schlechthin zu sein. Ich übersetze es gerne mit dem medizinischen Fachausdruck „auskultieren = (mit dem Stetoskop) abhorchen / genau hinhören / unter die Haut (oder Oberfläche) hören“. Die noch sehr offene Formulierung des Regelanfangs „Höre, mein Sohn, die Weisung des Meisters …“ konkretisiert sich in der lectio divina, d.h. in der Begegnung mit der Heiligen Schrift, und (für mich) noch einmal konkreter mit den Psalmen, die im Stundengebet unser tägliches Brot sind.
In solch wachem Hinhören destillieren sich Kernaussagen heraus, die in ihrem Immer-wieder-Auftauchen und Wiederholen Wurzeln schlagen und „etwas“ wachsen lassen. Ich sammle die positiven Worte und Bilder ..., denke und schaue mich in sie hinein ..., rede sie in mich ein …, und erfahre ihre Wirkung. Sie wachsen zu einem Schatz, der sich in der Auseinandersetzung mit dem Un-Guten und auch einfach Bösen, bewährt hat. Dem Einwand, das sei Schön-Rederei, kann man mit einem Spiegel-Argument begegnen: Der auf das Böse fixierte Blick, der die Mut-mach-Worte zur Quantité négligeable verzwergt, ist eine Kapitulation, die Zukunft nicht für möglich hält.
Abschließend ein Psalm und eine Begebenheit.
Psalm 117 ist der kürzeste der 150 Psalmen. Er hat nur zwei Verse. Vers 1 ist eine Aufforderung, Vers 2 deren Begründung. Dieser zweite Vers formuliert so prägnant eine dezidierte Überzeugung, dass sie fast als General-Überschrift für alle Psalmen gelten könnte.
Lobet den Herrn, alle Völker, *
preist ihn, alle Nationen!
Denn mächtig waltet über uns seine Huld, *
die Treue des Herrn währt in Ewigkeit.
… und die Begebenheit von vor 60 Jahren: Der kecke Novize fragte im Garten den allein vor sich hin arbeitenden alten Bruder: „So allein?“ Der antwortete: „Ich bin nie allein. Ich bin immer zu zweit.“ Das saß.
Albert Altenähr
2022-02-24
1Disciplina leitet sich von discipulus ab, was normalerweise als „Schüler“ übersetzt wird. Übersetzungen der Bibel nutzen oft „Jünger“, das Niederländische kennt dafür das schöne „lerling“.