Psalmen
Der Esel und das Psalmengebet
Ein alter Onkel von mir – genauer: ein Vetter meiner Mutter – war Franziskaner ... und das ist einer der Gründe, warum ich nicht Franziskaner wurde. Denn für die Liebenswürdigkeit seiner kernigen Originalität hatte ich damals, zur Zeit meines Klostereintritts, noch kein Gespür. Unter anderem sammelte er Bilder und Figuren von Eseln. Warum er „Bruder Esel“ so liebte, kann ich heute mehr nachempfinden. Der Sonnengesang des heiligen Franziskus und die Grenzen des eigenen Ichs haben ihn wohl das Grautier schätzen und lieben gelehrt. ...
Der Prior meines Heimatklosters in meinen ersten Klosterjahren hatte eine kleine Eselsfigur auf seinem Schreibtisch stehen. Beim und auf den Prior eines Klosters werde alles abgeladen, war seine Begründung. Heute könnte ich diese Vorstellung auch auf mich als Abt meines Klosters hin denken. ...
Eine noch einmal ganz andere andere Sicht auf das Eselchen öffnete mir der Jerusalem-Korrespondent der Tageszeitung „Die Welt“, Paul Badde, zu Weihnachten 2001. Er rückte das markerschütternde Eselswiehern in den Blick: „dieses himmelschreiend sich verschluckende Husten, Schluchzen, Schreien und Bellen, von dem völlig unerfindlich ist, welche Dichter es jemals als ‚iah‘ wiedergeben konnten. Ist es nicht eine der erschütterndsten Vorformen der Psalmen oder überhaupt des menschlichen Gebets?“[1]
Das Eselsgewieher und das Psalmenbeten, - ja, das Beten ganz allgemein miteinander in Beziehung zu bringen, - ... darauf muss man überhaupt erst einmal kommen! Die Gedankenverbindung ist mehr als ungewohnt, aber es lohnt sich, dem Vergleich nachzuspüren.
Etwas Unbändiges und Ungebändigtes spricht sich in dem Bildvergleich aus, - etwas ganz und gar nicht Durchziseliertes und Hochgestyltes, - etwas Ursprüngliches und Urtümliches, - ungeschönte und ungeschminkte Erfahrung. Es ist ein Bild biblischer Kraft, das gespeist ist aus der Nacktheit der Wüsten und den Schroffen der Berge des Heiligen Landes.
Vierzig Jahre Umgang mit den Psalmen haben mich ein wenig gelehrt, sie zu nehmen wie sie sind. Sie begegnen mir in ihrer Schönheit und gleichzeitigen Sperrigkeit. Sie decken mir meine eigenen Unzulänglichkeiten auf und geben mir Worte, mich gegen das Widerspenstige meiner Welterfahrungen anzustemmen. Sie geben dem „Himmelschreien“ meiner unerfüllten Gottes- und Menschenträume Laut.
Paul Baddes Porträt über den Esel war ein unerwartetes Weihnachtsgeschenk. Ich bin dankbar dafür.
Abt Albert Altenähr OSB
2001-12-25
[1] Paul Badde: Porträt. Ein Esel trug die Schwangere nach Bethlehem. In: Die Welt, 24.12.2001, S. 9.