Eine gelungene Üb-Ersetzung
… wie dem Adler – Ein königliches Bild
Ich freue mich immer wieder an dem Adlerbild in Psalm 103,5 „Wie dem Adler wird dir die Jugend erneuert“. Ich freue mich an Jesaja 40,31: „Die aber, die dem Herrn vertrauen, schöpfen neue Kraft, sie bekommen Flügel wie Adler. Sie laufen und werden nicht müde, sie gehen und werden nicht matt.“ Ich freue mich an Exodus 19,4: „Ihr habt gesehen, wie ich euch auf Adlerflügeln getragen und hierher zu mir (= zum Gottesberg Sinai) gebracht habe.“ Es sind königliche Bilder, die die Kraft des „Königs der Lüfte“ vor 2½ Jahrtausenden in das Volk Gottes hineinsprachen und auch heute ihre Kraft nicht verloren haben.
Der Adler hat einfach „was“. Er trägt die Botschaft von Erhabenheit, Stolz und Würde in sich, so dass er das Wappentier der Großen und der Ganz-Großen wurde. Könige, Kaiser und Staaten dokumentierten ihre Selbstgewissheit mit dem Adlersymbol in ihren Wappen. Kaiser Friedrich I. Barbarossa führte ihn in das Wappen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ein.
Und doch ist der Adler, den wir hochschätzen, nach allem, was wir erkennen können, nicht der Vogel, den unsere Bibelübersetzungen „Adler“ nennen. Dabei stehen wir heutigen Übersetzer in der Tradition der schon vorchristlichen Übersetzung des Alten Testamentes ins Griechische (die sog. LXX = Septuaginta, etwa 250 v.Chr.) und der Übersetzung des Hieronymus (342-420 n.Chr.) ins Lateinische (Vulgata). Sie sprechen eindeutig vom Adler. Er war der Vogel, in dem sich für die griechische und lateinische Welt das Majestätische beispielhaft widerspiegelte. ... und so ist es in unserem Kulturkreis geblieben.
Wenngleich es in Palästina verschiedene Adlerarten gibt, ist der majestätischste Vogel dort der Geier, zumal der naešaer, der Gänsegeier. Als Aasfresser gehören die Geier zu den kultisch unreinen Tieren und eine Schönheit ist ein Geier in seiner Kahlköpfigkeit auch nicht. Im Abendland verbinden sich weitgehend negative Assoziationen mit ihm. Das sprichwörtliche „Aasgeier“ gibt davon beredtes Zeugnis. In den bayerischen Alpen kam der Gänsegeier bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vor.
Der Gänsegeier kann bis zu 10 kg wiegen und eine Standhöhe von 1 m erreichen. Die Spannweite seiner Flügel liegt bei 2,80 m. Er kann bis zu 40 Jahren alt werden. Er liebt das offene, felsige Gelände und segelt auf der Thermik in großen Höhen. Erspäht er einen Beutekadaver, so stößt er darauf nieder. Die u.U. in großer Entfernung fliegenden Nachbarvögel deuten diesen Abstieg richtig als „Beute gesichtet!“ und mehr und mehr Geier finden sich bei dem Kadaver ein. „Wo ein Aas ist, da sammeln sich die Geier“, weiß auch das Neue Testament (Mt 24,28).
Seine kultische Unreinheit und seine Hässlichkeit hinderten Israel nicht, die Großartigkeit des Geiers als „König der Lüfte“ zu bewundern. Sein imposantes Flugbild im Segeln auf der Thermik darf als wesentlicher Vorstellungsimpuls für zahlreiche Flügel-Bilder des Alten Testamentes gelten. „Viele Vergleiche – die sich ebenso gut auf den Adler beziehen ließen – verweisen auf seine langen Federn, die er schützend über seine Jungen ausbreitet und mit denen er sie trägt, auf seinen schnellen Flug hoch am Himmel und auf seinen in Felsenhöhen erbauten Horst. Wie ein Aasgeier schwebt das Unheil heran und stürzt sich.der Feind auf die Beute. Das Geiergesicht des Lebewesens der Gotteserscheinung Ez 1,10 10,14 (vgl. Offb. 4,7; Vorbild für den Adler, Symboltier für Johannes den Evangelisten) verkörpert den Ostwind, den die Sonne emporträgt, womit vielleicht die Vorstellung mit der sich erneuernden Jugend des Geiers (Ps 103,5 Jes 40,31) zusammenhängt“ (P. Maiberger, Artikel „Adler“, in: Neues Bibel-Lexikon I, Zürich 1991, 32).
Mein Beten wird auch künftig vom „Adler“ sprechen, weil ich als Mensch meiner Kulturtradition ganz einfach mehr Positives mit dem Adler verbinde als mit dem Geier. Meine Recherche hat mir dabei wieder einmal bewusst gemacht, dass Übersetzen mehr ist als eine Vokabel-Übertragung. Es verlangt ein Einfühlen in fremdes Denken, das auch Bilder u.U. ändern muss, damit wirklich rüberkommt, was gemeint ist. So ist der „alte Geier“ ein „junger Adler“ geworden. Ja, es ist richtig, dass wir den Adler ins Bewusstsein heben, obwohl das alte Israel den Geier vor Augen hatte.
Abt Albert Altenähr OSB
2005-06-10
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