zu Psalm 130,7
„Bei Ihm ist Erlösung in Fülle“. Zu einem Psalmvers im Testament Papst Johannes Pauls II.
In den Tagen nach dem Tod des Papstes wartete man voller Spannung auf das Testament des Papstes. Als es dann veröffentlicht wurde, erfuhren wir durch die Medien vieles, was „die Welt“ und „die Menschen“ interessierte und in diesen Tagen für wichtig hielten.
Ganz still ist es um das Psalmwort geblieben, das die ersten Testament-Zeilen vom 6. März 1979 abschließt. Das Wort ist lateinisch zitiert und es wurde in der deutschen Übersetzung des Testamentes unübersetzt lateinisch wiedergegeben. Eine Versangabe hat Papst Johannes Paul nicht hinzugefügt und sie wird auch nicht in der Übersetzung gebracht.
Apud Dominum misericordia
et copiosa apud Eum redemptio.
Am 18. Oktober des Vorjahres – also vor 4 ½ Monaten – war Karol Woytila zum Papst gewählt worden. Am ersten Fastensonntag, 4. März 1979, begannen wie alle Jahre die Exerzitien im Vatikan. Der junge Papst hatte sich das Testament Papst Pauls VI. geben lassen und fühlt sich durch den Text angeregt, selbst ein Testament zu schreiben.
Während Paul VI. sein Testament „klassisch“ „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“ einleitet, setzt Johannes Paul II. gleich in der Einführung den ihm eigenen marianischen Akzent: „Totus tuus ego sum. Im Namen der Heiligsten Dreifaltigkeit. Amen.“ Dass dieses „Totus tuus - (Ich gehöre) ganz dir" auch im Testament des Papstes marianisch gemeint ist, ist uns nach den 26 Jahren des Pontifikats keine „Offenbarung“, aber einer Erwähnung scheint es mir doch wert. In der ersten Passage des Testamentes wird es deutlich formuliert: „Ich weiß nicht, wann er (= der Tod) kommen wird, aber wie alles andere lege ich auch diesen Moment in die Hände der Mutter meines Meisters: Totus Tuus.“ Insgesamt taucht dieses „Totus tuus“ fünf Mal im Testament Johannes Pauls II. auf.
Das Testament vom 6. März 1979 endet mit der Verfügung über die Bestattung und unserem Psalmvers: „Was die Beerdigung betrifft, wiederhole ich die gleichen Verfügungen, die der Heilige Vater Paul VI. gegeben hat. ‘apud Dominum misericordia et copiosa apud Eum redemptio’.” Die Randnotiz Johannes Pauls II. vom 13.3.92 „das Grab in der Erde, nicht in einem Sarkophag“ korrigiert nicht die ursprüngliche Bestimmung, sondern unterstreicht sie, denn bereits Paul VI. hatte in seinem Testament vom 30.6.1965 gleiches bestimmt: „The tomb: I would like to be in real earth, with a humble marker indicating the place and asking for Christian mercy. No monument for me”. Ob ein Grab in den Vatikanischen Grotten wirklich ein “Grab in der Erde” sein kann, weiß ich nicht zu beantworten. Klar ist aus dem Zusammenlesen beider Verfügungen, dass Papst Johannes Paul II. keinen Sarkophag wollte und kein Denkmal über seinem Grab (... und überhaupt im Petersdom?).
Der Psalmvers ganz am Ende des Testamentes vom 6.3.1979 kommt „unvorbereitet“ und Papst Johannes Paul schließt auch keine weitere Reflexion über ihn an. Assoziativ mag er dem Papst in die Feder geflossen sein, nachdem er in der mehr spirituellen Eingangspassage formuliert hatte: „Ich bitte auch um Gebet, damit die Barmherzigkeit Gottes sich größer erweisen möge als meine Schwächen und Unwürdigkeiten.“ Das lateinische Wort für „Barmherzigkeit“ ist „misericordia“. Nicht kommentiert ist das Psalmwort an dieser markanten Schlussstelle des Testamentes einerseits sehr bescheiden und zugleich groß. Es scheint Johannes Paul II ein so selbstverständliches „Amen“ für sein Testament zu sein, dass es keiner Kommentierung bedarf – ja, nicht einmal eines Verweises darauf, wo das Wort herkommt. In keinem der Zusätze zum Testament wird es aufgegriffen. An genauso markanter Stelle – als Schluss des jüngsten Zusatzes (17.3.2000) – steht das Jesuswort am Kreuz: „In manus tuas commendo spiritum meum – In deine Hände gebe ich meinen Geist“. So hatte auch Paul VI. 1965 sein Testament enden lassen.
Der Vers „apud Dominum misericordia et copiosa apud Eum redemptio” ist Psalm 130 entnommen (Vers 7). Diese Angabe wird sicher nur bei wenigen etwas “klicken” lassen. Anders wird es aussehen, wenn ich den lateinischen oder deutschen Psalmanfang zitiere: „De profundis ... – Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.“ Mancherorts gehört der Psalm so sehr zum Beerdigungsritus (Gotteslob Nr. 82), dass man ihn in der Gemeinde auswendig rezitieren kann. Und ein Seufzer „de profundis“ ist nahezu sprichwörtlich.
Als ich den Vers im Papst-Testament erstmals las, kam mir nicht eine der gängigen Übersetzungen in den Sinn – möglicherweise nutze ich zu viele verschiedene Übersetzungen -, sondern ich übersetzte zunächst als alter Lateinschüler ganz brav: „Beim Herrn ist Erbarmen, bei ihm ist reiche Erlösung.“ Erst danach schaute ich in andere Übersetzungen hinein. Die Einheitsübersetzung sagt es so: „Beim Herrn ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle“ -, das Münsterschwarzacher Antiphonale, das wir im Chorgebet nutzen (Donnerstag, Mittagshore), formuliert: „Beim HERRN ist die Liebe, bei ihm ist Erlösung in Fülle.“ Die Elberfelder Übersetzung (1993) und auch die Lutherbibel (1984) wählen die Formulierung „Bei dem HERRN ist die Gnade, und viel Erlösung bei ihm.“
Zweierlei wird dem aufmerksamen Leser bei den verschiedenen Versionen auffallen: 1) die unterschiedliche Groß- und Kleinschreibung, 2) die Übersetzungsvielfalt „Erbarmen – Huld – Liebe – Gnade“.
Dass Johannes Paul II. in seiner lateinischen Fassung die Wörter « Dominus » und « Eum » jeweils mit einem Großbuchstaben beginnen lässt muss nicht philologisch begründet sein. Es kann einfach aus dem Bewusstsein – oder auch Unterbewusstsein – geschrieben worden sein, dass es sich bei dem „Herrn“ und bei „ihm“ um Gott handelt. Die Übersetzungen, die „Herr“ in Großbuchstaben schreiben, machen damit darauf aufmerksam, dass im Hebräischen der Gottesname Jahwe gebraucht wird, den der fromme Jude nicht ausspricht. Er sagt „adonai = Herr“, wo er „Jahwe“ liest.
Die Übersetzungsvielfalt oder zumindest –mehrfalt des hebräischen Wortes „hesed“ = Erbarmen – Huld – Liebe – Gnade ... und sicher noch einiges andere ist möglich, macht deutlich, wie schwer es ist, die Atmosphäre eines Wortes in eine andere Sprache und eine andere Zeit übersetzen. Sprache ist gar nicht so banal eindeutig, wie wir oftmals meinen. Sie ist so vielschichtig, wie die Menschen, die sprechen. Man muss Sprache verkosten, um die Kostbarkeiten zu entdecken, die im einzelnen Wort und in den Wortzusammenhängen verborgen sind. Was ich hier für das hebräische „hesed“ und die angebotenen deutschen Äquivalente andeute, lässt sich auch nachspüren im zweiten Teil unseres Psalmverses. Es ist nicht einfach dasselbe zu sagen „bei ihm ist Erlösung in Fülle“ oder zu sagen „und viel Erlösung bei ihm.“ Übersetzungstechnisch und sachlich mag beides gleich richtig sein, aber das Schwingungspotential scheint mir durchaus zu variieren. Dass die einzelnen Menschen das je und je anders empfinden mögen, ändert nichts an Richtigkeit dieser These, - im Gegenteil, es stützt sie.
Je länger ich über das Psalmenzitat im Testament des Papstes nachdenke, um seine Bedeutung für Johannes Paul II. zu erkennen, desto mehr merke ich, dass es gar nicht mehr um den Verfasser des Testamentes geht, sondern um mich selbst. Mit seinem Psalmvers hat Johannes Paul II. auf mich eine Wirkung ausgeübt. Das im Kopf seit je gewusste Psalmwort ist tiefer gesunken -, etwas salopp gesagt: Richtung Herz. Es ist bewusst geworden. Es ist mir mehr zu eigen geworden.
Ist das Testament Papst Johannes Pauls II. ein geistliches Testament? Vom Inhalt und Ductus würde ich es nicht in diese literarische Gattung einordnen. Er hat es aber nach dem Zeugnis des Textes bei den Jahresexerzitien immer wieder gelesen, - dabei dann auch unseren Psalmvers. Er hat dabei dann einige Zusätze gemacht. Johannes Paul hat im Zusammenhang mit seinem eigenen Testament auch immer wieder zum Testament Pauls VI. gegriffen. So wird man dieses Testament eigentlich stets zusammen mit dem Pauls VI. lesen müssen. Sie gehören zusammen. In der jährlichen „relecture“ seines letzten Willens hat Johannes Paul II. sich immer wieder „Bruder Tod“ gestellt ... und das ist ein geistliches Tun und davon gibt das Testament Zeugnis.
Ich bin in den vergangenen Tagen von einer in ihrer Kirche engagierten Nicht-Katholikin gefragt worden: „Wie ‚betrifft’ Sie eigentlich der Tod des Papstes?“ Vielleicht ist der vorliegende Text eine Antwort. Ich brauche für meinen weiteren Weg sicher „viel Erlösung“ und ich hoffe auf „Erlösung in Fülle“. Neben Psalm 130,7 habe ich in mein Chorbuch die Notiz geschrieben: „Testament Joh. Paul II. 6.3.1979“. Das wird mich künftig regelmäßig an ihn erinnern und den Psalmvers lebendiger beten lassen.
Abt Albert Altenähr OSB
2005-04-09
Bilder: Papstwappen im Marmorfußboden des Petersdoms; Rembrandt, Der verlorene Sohn