Markus 5
Das Töchterchen des Jaïrus
Sie war das Töchterchen des Jaïrus. Einen eigenen Namen brauchte sie nicht. Es war schön, Töchterchen sein zu dürfen. Es war schön, eins zu sein mit ihm, Jaïrus. Es war schön, keine eigene Identität haben zu müssen.
„Ich bin das Töchterchen des Jaïrus. Das ist meine Ewigkeit.“
Da war die Zeit der Reife da.
Schrecken überfiel sie. Sie war herausgefallen aus dem Kinderbett, - herausgefallen aus wohliger Geborgenheit und blütenreiner Einheit. Sie sollte Verantwortung übernehmen und den Wechsel von Licht und Schatten, von Tag und Nacht als das Leben vor sich haben.
Das war zuviel.
„Zurück ins Bett und die Decke über den Kopf. Ich stelle mich tot. Ich will nicht. Ich kann nicht den hellen Tag und das Dunkel der Nacht und dazu das Wechsellicht des Abends und des Morgens ertragen. Wenn ich schon nicht das reine Licht der Geborgenheit behalten kann, dann wähle ich das Dunkel unter der Bettdecke. Da kann mich keiner erreichen, - keiner mir etwas wollen, keiner etwas von mir wollen.“
Und keiner konnte zu ihr kommen. Die Tür war zu. Nichts und niemanden ließ sie an sich heran. Und man ließ sie in Ruhe und bejammerte ihr totes Leben. Und sie selbst stimmte in den Jammer ein.
Stille wurde im Raum. Langdauernde Stille, beängstigende Stille. Mit einem Auge lugte sie um die Ecke der Decke. Zwei Augen, - ein Gesicht schaute sie an und sagte nichts.
Eine Hand streckte sich ihr entgegen und ein Wort klang an sie heran: „Mädchen, steh auf! Feiere Auferstehung! Leben ist dir geschenkt, - buntes Leben. Es ist viel lebendiger als das Leben des Töchterchens. Du wirst strahlen im Glück und du darfst auch erschrecken, wenn du stolperst, fällst und blutest. Töchterchen, werde Tochter. Mädchen, sei Frau. So wirst du fruchtbar, aufblühen und finden, was du nicht zu träumen wagst.“
Und sie stand auf in die Ruhe dieses Wortes: „Talita kum!“ Er stellte sie auf die Füße, machte ihr Beine und schenkte ihr Stand. Sie wagte einen Schritt und einen zweiten. Es ging. Sie war 12 Jahre alt und die jungen Männer des Dorfes entdeckten ihre Schönheit.
Den Eltern aber sagte er: „Gebt ihr etwas zu knabbern, etwas zu beißen. Sie hat Zähne. Sie ist eure Tochter, … nicht mehr Töchterchen. Wachst mit ihr.“
Abt Albert Altenähr OSB
2007-03-05